Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 12 - Kontaktaufnahme

Am nächsten Morgen war ich der erste, der aufwachte. Leise rollte ich mich aus dem Bett, um Thomas und Kevin nicht zu wecken. Die beiden sahen richtig süß aus, wenn sie so nebeneinander lagen und schliefen. Ich ließ die beiden allein und schlich in die Dusche.

Als ich zurückkam, war nur noch Kevin im Raum.

»Morgen, David! Thomas ist wieder zurück in sein Zimmer. Ich glaub, der musste erst mal was gegen seine Morgenlatte unternehmen. Scheint ihm hier gut gefallen zu haben, so zwischen uns.«

Kevin grinste wieder bis über beide Ohren. Ich lächelte gequält zurück.

»Fragt sich nur, ob's ihm wegen mir oder wegen dir so gut gefallen hat«, antwortete ich schließlich.

»Na wegen dir natürlich!«

»Sei dir da mal nicht so sicher! Außerdem isses ja wohl ganz normal, dass man morgens 'ne Erektion hat, oder?«

Auch wenn ich mich diesmal bemühte, beim Thema Sexualität etwas mehr Humor zu zeigen, wollte ich diese Diskussion doch schnellstmöglich wieder beenden.

»Außerdem hat er heute Nacht sicher von Stefan geträumt. Bin ja gespannt, ob er ihn wirklich anruft.«

»Naja, dann wird das wohl nichts mit euch beiden!«

»Ich glaub, da würde auch ohne Stefan nichts daraus werden.«

»Thomas ist nicht gerade dein Typ, oder?«

»Naja, nicht so ganz. Mit diesem Dackelblick find ich ihn immer ganz süß, aber sonst ... Fängt schon damit an, dass er raucht.«

»Hey, wart's erst mal ab! Man kann nie wissen, wie sich das so entwickelt. Wenn Stefan ihm 'ne Abfuhr erteilt, dann braucht er jemanden wie dich!«

»Ach, das wird schon wieder zwischen den beiden!«

Damit war das Thema dann endlich erledigt.

Als ich mit Kevin zum Frühstück hinunter in den Speisesaal ging, trafen wir Thomas vor dem Aufzug.

»Und? Alles klar bei dir?« fragte ich ihn.

»Ja. Danke, dass ich bei euch schlafen konnte.«

»Schon okay!«

Die Fahrstuhltüre öffnete sich und wir traten hinein. In der Kabine sprach ich Thomas dann auf Stefan an. Ich hatte das Gefühl, dass diese Sache nun schnellstmöglich in Gang gebracht werden musste.

»Wann willst du jetzt Stefan anrufen?«

Thomas sah mich unsicher an.

»Du wirst ihn doch anrufen?« fragte ich noch einmal.

Thomas zuckte mit den Schultern. Anscheinend hatte er inzwischen schon wieder den Mut verloren.

»Hey, ich dachte wir hätten das geklärt?«

»Ich hab ja nicht mal die Nummer vom Krankenhaus, wo er arbeitet.«

»Dafür gibt's die Auskunft!«

Jetzt schien Thomas keine Ausrede mehr einzufallen.

»Naja, mal sehen.«

»Du rufst ihn also an?«

Thomas nickte.

»Dann machst du das am besten gleich nach dem Frühstück, okay?«

Richtig begeistert schien er immer noch nicht zu sein.

»Kann wenigstens einer von euch bei der Auskunft anrufen? Ich bin da nicht so gut drin, mich am Telefon durchzufragen.«

Ich willigte ein, das für ihn zu erledigen. Für den Vormittag hatte ich ohnehin nichts anderes vor und Kevin musste später ja zu dieser komischen Maltherapie und zu Frau Fröschl.

Nach dem Frühstück ging ich deshalb gleich mit zu Thomas aufs Zimmer. Das Reinigungspersonal war dort gerade fertig geworden. Wir konnten also ungestört am Telefon nach Stefan fahnden.

Als erstes war die Auskunft an der Reihe. All die lustigen Werbespots, in denen sie einem die verschiedensten Eselsbrücken anboten, mit deren Hilfe man sich angeblich ganz einfach ihre Nummer merken konnte, hatten bei mir offensichtlich ihre Wirkung verfehlt. Die Werbemacher hatten wohl nicht damit gerechnet, dass es Leute wie mich gab, die an Verona Feldbusch rein gar nichts erotisch fanden. Ich konnte mich zwar an irgendwas mit 11 und 88 erinnern, aber da kam sicher auch noch die eine oder andere weitere Ziffer vor, die mir inzwischen wieder entfallen war. Alles auch noch in die richtige Reihenfolge zu bringen, war dann noch ein ganz anderes Problem.

Zum Glück konnte mir Thomas da weiterhelfen. Bei ihm war die Nummer wohl hängen geblieben.

»Naja, ich hatte bei meiner Oma halt nichts zu tun. Was soll man da außer Fernsehen sonst machen?«

Schnell hatte ich eine nette Dame am Hörer, die mir bereitwillig ihre Dienste anbot. Dabei ging es natürlich nur um das Heraussuchen der einen oder anderen Telefonnummer. Ich erkundigte mich nach der Cityklinik in Langenbergen.

Cityklinik. Das war auch so ein neudeutscher Name. Thomas hatte mir erzählt, dass es sich dabei eigentlich um ein ziemlich altes Gemäuer handelte. Der Name passte also wie die Faust aufs Auge. Bis vor kurzem hatte das Krankenhaus auch einfach nur 'Krankenhaus' geheißen, aber scheinbar war der Name dann irgendwann nicht mehr gut genug gewesen. So eine Umbenennung war wohl eben einfach billiger als eine gründliche Renovierung. Jedenfalls sorgte der neue Name beim Klinikpersonal seitdem für Erheiterung. Das hatte Thomas zumindest von Stefan gehört.

Die Telefonnummer zu erhalten war jedenfalls kein Problem. Die Auskunft kannte wohl bereits die neue Bezeichnung. Nach einer halben Minute hatte ich ein paar unleserliche Ziffern auf einen Zettel gekritzelt.

»Kannst du da auch anrufen und dich nach Stefan durchfragen?« wollte Thomas kleinlaut wissen, als ich wieder aufgelegt hatte.

»Ja, kann ich machen«, willigte ich ein. »Aber du solltest mir vorher besser sagen, wie Stefan mit Nachnamen heißt.«

»Kunze«, antwortete Thomas verlegen.

Ich wählte die Nummer der Cityklinik. Damit Thomas mithören konnte, schaltete ich den Lautsprecher ein. Nach einer Weile meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende.

»Krankenhaus ... äh ... Cityklinik Langenbergen. Guten Tag.«

»Guten Tag. Wir suchen nach einem Stefan Kunze, der bei Ihnen als Krankenpflegeschüler arbeitet. Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Wohnt er hier im Wohnheim?«

»Ja.«

»Moment, dann hab ich ihn hier auf meiner Liste.«

Für einen Moment setzte Stille ein. Dann hörte ich irgendetwas klappern. Schließlich meldete sich die Stimme wieder.

»Einen Moment noch bitte! Ich versuche, ihn über die Sprechanlage im Wohnheim zu erreichen.«

Dann hörte ich eine nervtötende Warteschleifenmelodie. Eine Frauenstimme hauchte immer wieder »Bitte warten!«

»Hören Sie?« meldete sich nach einer knappen Minute die Stimme wieder.

»Ja.«

»Er scheint nicht in seinem Zimmer zu sein. Sonst hätte ich sie mit dem Telefon auf seiner Etage verbinden können.«

»Können wir ihn vielleicht auf seiner Station erreichen?«

»Dann müsste ich wissen, auf welcher Station er arbeitet.«

Ich sah Thomas fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte ich in den Hörer. »Können Sie das nicht herausfinden?«

»Ich kann Sie höchstens mit der Personalabteilung verbinden.«

»Ja, bitte.«

Wieder wurde ich in die Warteschleife gelegt. Dann meldete sich eine Frauenstimme.

»Personalabteilung. Wolters.«

»Guten Tag, könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station Stefan Kunze arbeitet?«

»Einen Moment bitte.«

Wieder hörte ich Geräusche im Hintergrund. Frau Wolters tippte wohl auf einer Computertastatur herum.

»Herr Kunze arbeitet auf Station C3«, sagte sie nach einer Weile. »Aber zur Zeit hat er Urlaub.«

»Urlaub?« fragte ich zurück. Das hatte uns gerade noch gefehlt.

»Ja.«

»Haben Sie irgendeine Adresse oder Telefonnummer, wo ich ihn vielleicht erreichen kann?«

»Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Die persönlichen Daten unseres Personals darf ich nicht herausgeben.«

»Und Sie können da nicht mal 'ne Ausnahme machen? Es ist wirklich wichtig!«

»Tut mir leid.«

Ohne mich zu verabschieden legte ich den Hörer auf. So schwierig hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das artete ja richtig in Detektivarbeit aus.

»Was machen wir jetzt?« fragte Thomas. Er sah ziemlich verzweifelt aus.

»Weißt du vielleicht, wo Stefan sein könnte?« wollte ich von ihm wissen. »Oder kennst du irgendjemanden von seinen sonstigen Bekannten?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Und seine Eltern? Die sollten doch wohl wissen, wo er steckt?«

»Die wohnen in irgend 'nem kleinen Kaff. Ich weiß noch nicht mal, wie der Ort heißt. Ich glaub die haben 'nen Bauernhof oder so was.«

Eigentlich hatte ich angenommen, dass Thomas etwas mehr über Stefan wusste. Aber vielleicht hatte der ja auch Probleme mit seinen Eltern und hatte dieses Thema deshalb nie so genau angesprochen. Oder Thomas hatte einfach nicht richtig zugehört. Eine Familie Kunze ausfindig zu machen, würde auf jeden Fall ziemlich schwierig werden. Kunzes gab es schließlich wie Sand am Meer. Naja, wenigstens hieß Stefan nicht Meier, Müller oder Schmidt.

»Warte mal, ich hab da 'ne Idee«, sagte ich, nachdem ich eine Weile überlegt hatte.

Noch einmal wählte ich die Nummer der Cityklinik. Es meldete sich wieder die männliche Stimme von vorhin. Ich bat darum, mit Station C3 verbunden zu werden. Nach einer Weile meldete sich die Stimme einer jungen Frau.

»C3, Lernschwester Melanie.«

»Äh, hallo, ist Stefan da?« fragte ich. Vielleicht bekam ich auf diese Weise eher eine Auskunft.

»Meinst du Stefan Kunze?«

Das hier schien tatsächlich einfacher zu werden.

»Ja, genau. Ist er da?«

»Nee, der hat Urlaub.«

»Weißt du, wie ich ihn erreichen kann?«

»Ich glaub der ist zu seinen Eltern. Der war so komisch drauf in letzter Zeit, richtig fertig mit den Nerven. Dann hat er sich krank gemeldet und danach gleich Urlaub genommen. Keine Ahnung, was mit dem passiert ist.«

»Hast du die Telefonnummer oder die Adresse seiner Eltern?«

»Moment, die Telefonnummer muss hier eigentlich irgendwo sein.«

Es klapperte, als Melanie den Hörer zur Seite legte.

Ich sah Thomas an. Der saß mir mit offenem Mund gegenüber. Ich fragte mich, was Stefan in den letzten Wochen so alles durchgemacht hatte. Thomas schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.

»Hey, ich hab die Nummer hier«, hörte ich plötzlich Melanies Stimme wieder.

»Wow, gut. Schieß los!«

Ich notierte die Nummer auf dem Zettel unterhalb der Klinikrufnummer. Diesmal bemühte ich mich, etwas leserlicher zu schreiben. Ich wollte nicht noch einmal auf der Station anrufen müssen, nur weil ich mein Gekrakel nicht mehr entziffern konnte. Schließlich konnte ich nicht wissen, ob dann wieder jemand abnehmen würde, der so auskunftsfreudig wie diese Melanie war.

»Danke, du hast mir echt weitergeholfen«, sagte ich schließlich.

»Bist du ein Freund von Stefan?«

»Ja, könnte man so sagen«, log ich.

»Du weißt auch nicht, was ihm fehlt, oder?« wollte Melanie mit besorgter Stimme wissen.

Natürlich konnte ich ihr jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen.

»Ich schätze mal, dem wird's bald wieder besser gehen«, sagte ich deshalb nur.

Dann verabschiedete ich mich von der jungen Lernschwester. Hatte ihr Stefan nie etwas von Thomas erzählt? Sie schien Stefan ja eigentlich ganz gut zu kennen. Zumindest machte sie sich Sorgen um ihn.

»So, das ist jetzt deine Sache«, sagte ich zu Thomas und drückte ihm den Hörer in die eine und den Zettel mit der Telefonnummer in die andere Hand. Dann stand ich auf. Für das, was jetzt kam, wollte ich ihn lieber alleine lassen.

»Meinst du, Stefan ist wegen mir so fertig?« wollte er von mir wissen.

»Weswegen sonst?«

»Oh Scheiße! Das hab ich echt nicht gewollt.«

»Hey, das wird schon wieder, wenn du dich erst mal bei ihm gemeldet hast.«

»Mann, warum hab ich das nur nicht früher gemacht?«

Das fragte ich mich auch. Dann wäre wohl beiden einiger Kummer erspart geblieben.

»Jetzt wähl endlich!« forderte ich ihn auf und wollte schon das Zimmer verlassen.

»Was soll ich da denn sagen?« hielt er mich zurück. »Seine Eltern wissen doch überhaupt nichts von mir. Die wissen ja nicht mal, dass Stefan schwul ist.«

»Frag einfach nach ihm. Die werden dir dann schon irgendwas sagen. Wenn Melanie Recht hat und er wirklich bei seinen Eltern ist, dann geht er ja vielleicht sogar selber ans Telefon.«

Thomas' Finger zitterten vor Aufregung, als er endlich die Nummer eintippte. Der Lautsprecher des Apparats war immer noch eingeschaltet. Am anderen Ende der Leitung klingelte es mehrmals.

»Kunze«, meldete sich dann eine Frauenstimme. Wahrscheinlich war das Stefans Mutter.

»Äh ... hallo ... ist Stefan da?« fragte Thomas zögerlich.

»Ja, der ist in seinem Zimmer. Wer ist denn da?«

»Äh, ich bin ... Thomas.«

»Thomas? Du bist der ... Freund ... von Stefan?«

Thomas sah mich verwundert an. Zumindest Stefans Mutter schien inzwischen etwas von der Homosexualität ihres Sohnes erfahren zu haben. Sogar über Thomas wusste sie Bescheid.

»Ja«, sprach dieser ängstlich in den Hörer.

Er schien sich bereits auf ein Donnerwetter oder so etwas ähnliches einzustellen. Was stattdessen aus dem Lautsprecher kam hatte er so wohl nicht erwartet.

»Thomas! Gott sei Dank! Endlich meldest du dich! Der Stefan hat sich ja solche Sorgen um dich gemacht. Der kann gar nimmer auf die Arbeit deswegen. Warte! Ich hol ihn schnell!«

Die Frauenstimme klang ganz aufgeregt. Thomas sah mich an. Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Unterlippe bebte.

Es klapperte aus dem Lautsprecher, als Frau Kunze den Hörer neben das Telefon legte. Dann hörte man sie laut »Stefan! Stefan! Komm schnell runter! Der Thomas ist am Telefon!« schreien.

Ich streichelte Thomas durchs Haar. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Hey, jetzt wird alles gut«, sagte ich leise.

Nun hörte man, wie jemand schnell eine Treppe herunter lief. Ich schaltete den Lautsprecher ab.

»Stefan?« sagte Thomas im nächsten Moment mit tränenerstickter Stimme. Dann begann er unkontrolliert zu schluchzen. Am anderen Ende der Leitung schien es jemandem ähnlich zu gehen.

Ich wischte mir ebenfalls die Tränen aus den Augen. Mann, das war mal wieder eine ergreifende Situation.

Es dauerte bestimmt eine Minute, bis Thomas sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ach, mir geht's ganz gut«, sprach er schließlich in den Hörer.

Es folgte eine Pause.

»Ich bin hier in so 'ner komischen Klinik. Bad Neuheim oder so.«

Jetzt war es aber wirklich an der Zeit, dass ich die beiden alleine ließ. Ich deutete mit dem Zeigefinger an die Zimmerdecke.

Thomas nickte. Er hatte verstanden. Ich würde oben auf dem Dach auf ihn warten. Wenn er dieses Gespräch erst einmal beendet hatte, würden zwei oder drei Zigaretten wohl nicht reichen.

Ich verließ das Zimmer, holte mir schnell einen meiner Romane und meine Daunenjacke und fuhr dann in den obersten Stock. Wieder hatte sich keine Menschenseele hierher verirrt. Ich blickte durch die breite Glasfront nach draußen. Es regnete. Ich hatte vorhin in Thomas' Zimmer gar nicht bemerkt, dass es damit angefangen hatte. Die Detektivarbeit am Telefon hatte mich wohl so sehr in Anspruch genommen, dass ich kein einziges Mal aus dem Fenster gesehen hatte.

Ich setzte mich auf eines der Sofas und schlug mein Buch auf. Natürlich war ich wieder viel zu aufgewühlt, um auch nur einen einzigen Satz bewusst aufzunehmen. Naja, Andreas Steinhöfel würde es mir wohl nicht weiter übel nehmen, wenn ich seinen Roman 'Die Mitte der Welt' erst dann las, wenn ich wieder zu Hause war. Was ich hier in der Klinik so alles erlebte, war ohnehin aufregender als jede erfundene Geschichte. Ich legte das Buch zur Seite und schlüpfte in meine Daunenjacke. Wenn es schon mal regnete, musste ich das schließlich ausnützen. Ich schloss den Reißverschluss bis zum Kinn, holte die dünne Kapuze aus dem Jackenkragen und zog sie mir über den Kopf. So verpackt trat ich hinaus auf die Terrasse.

Ich stellte mich ganz nach vorne an das Geländer, ließ den Regen auf mich herabtropfen und blickte in die Ferne. Nicht, dass man von hier aus besonders weit sehen konnte. Hinter den Baumskeletten entlang der Straße waren gerade noch die Häuser eines Nachbarortes zu erkennen, der höchstens zwei Kilometer entfernt lag. Ich zog die Kapuze noch etwas fester zu und vergrub meine Hände dann in den Jackentaschen. Der Wind kam von hinten und blies mir die Regentropfen so wenigstens nicht ins Gesicht. Ich ließ meinen Blick schweifen und fragte mich, ob es irgendwo da draußen einen netten, einfühlsamen schwulen Jungen gab, für den Sex nicht unbedingt an erster Stelle stand und der es vielleicht stattdessen genauso genoss wie ich, mit einer Kapuze auf dem Kopf im Regen zu stehen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie auf die Kapuze niederprasselten. Oder war ich da vielleicht doch der einzige auf diesem Planeten, der so etwas mochte? Und wie sollte ich diesen anderen Jungen, falls er denn wirklich existierte, jemals finden?

'I'm a creep. I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here.'

Der Text eines Songs von Radiohead ging mir durch den Kopf. Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, ob der überhaupt zu meiner Situation passte. Vielleicht sollte ich endlich mal genauer hinhören, wenn das Lied wieder einmal im Radio gespielt wurde. Zumindest gefiel mir dieser Refrain irgendwie.

Nach einer Viertelstunde wurde es mir dann doch zu nass. Irgendwie war die dünne Kapuze nicht besonders wasserdicht. Ich ging wieder nach drinnen und entledigte mich meiner inzwischen patschnassen Daunenjacke. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Thomas jetzt bald kommen würde. Er war einfach nicht der Typ, bei dem ich mir vorstellen konnte, dass er stundenlange Telefongespräche führte, auch wenn am anderen Ende der Leitung sein Boyfriend war, den er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Aber vielleicht war Stefan ja gesprächiger. Und der würde wohl auch genug zu erzählen haben. Zum Beispiel von seinem Coming-Out bei seiner Familie.

Nervös lief ich eine Weile hin und her und hörte zu, wie der Aufzug mal nach oben, mal nach unten fuhr. Bis hier herauf kam er die ganze Zeit über nicht. Irgendwann setzte ich mich dann wieder auf die Couch.

Als nach über einer Stunde doch endlich die Fahrstuhltüre aufging, hatte ich schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass Thomas überhaupt noch kommen würde. Eigentlich hatte ich ja auch erwartet, dass er dann zumindest über das ganze Gesicht strahlen würde, aber als er jetzt tatsächlich hier auftauchte, wirkte er eher deprimiert.

»Oh Mann, ich hab da wohl echt ganz schön Scheiße gebaut«, war das erste, was er sagte. »Stefan ging's ganz schön dreckig in letzter Zeit. Und ich bin schuld dran, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet hab!«

»Und sonst? Was ist jetzt mit euch beiden?« wollte ich neugierig wissen.

Endlich lächelte er mich an.

»Er will herkommen, gleich morgen!«

»Hey, dann ist also zwischen euch alles in Ordnung?«

»Ich glaub schon.«

Na also, jetzt strahlte er doch noch.

»Meinst du, er kann hier über Nacht bleiben, so über's Wochenende?« wollte Thomas von mir wissen. Er schien bei diesem Gedanken ganz aufgeregt zu sein.

»Wer sollte was dagegen haben? Außer den Putzfrauen kommt ja niemand in die Zimmer. Und am Wochenende kümmert sich kein Schwein darum, wer alles in der Klinik rumläuft.«

»Nicht, dass wir Ärger bekommen.«

»Die werden uns schon nicht gleich rauswerfen.«

Hoffentlich stimmte das auch. So ganz sicher war ich mir da dann doch nicht. Während ich noch darüber nachdachte, holte Thomas seine Zigaretten und sein Feuerzeug aus einer der Taschen seiner Cargopants. Darauf hatte ich ja schon gewartet.

»Scheiße, jetzt hab ich nicht mal meine Jacke mitgebracht«, fluchte er, als er draußen den Regen sah.

»Deine hat ja sowieso keine Kapuze, oder?«

»Nö.«

»Du kannst ja meine nehmen.«

»Und du?«

»Naja, ich bleib halt in der Tür stehen. Außerdem war ich grad schon draußen. Ich muss da jetzt nicht noch mal raus.«

Eigentlich hatte ich ja jetzt mit irgendeiner Reaktion von ihm gerechnet. Dass er mir die Frage stellen würde, warum ich denn bei diesem Wetter überhaupt draußen gewesen war. Oder dass er vielleicht gleich irgendeine Bemerkung über meine Leidenschaft für Kapuzen machen würde. Aber ich hatte wohl vergessen, dass ich es hier mit Thomas zu tun hatte. Und der hatte eben irgendwie kein so rechtes Gespür dafür, was andere Leute so fühlten. Wie anders war es zu erklären, dass er bis gestern anscheinend nicht einen Moment daran gedacht hatte, dass Stefan sich vielleicht wahnsinnige Sorgen um ihn machen könnte?

So reichte ich ihm einfach meine Daunenjacke. Die war inzwischen wieder ziemlich trocken. Er schlüpfte hinein und schloss den Reißverschluss. Während er sich die erste Zigarette anzündete, öffnete ich ihm die Türe und er trat hinaus ins Freie. Mein Blick fiel auf die Kapuze, die lose an seinem Rücken herabhing. Eigentlich hätte ich ihn ja gerne mal mit dieser Kapuze auf dem Kopf gesehen, aber da er sie nicht von selbst aufsetzte, wollte ich ihn auch nicht darauf ansprechen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Glasfront. So dicht an der Wand war er sowieso ganz gut vor dem Regen geschützt. Ich stellte einen Fuß in die Tür und sah durch den offenen Spalt zu ihm hinaus.

Schweigend rauchte er die erste Zigarette. Seine kurze Euphorie war bereits wieder verflogen und hatte einer eher nachdenklichen Stimmung Platz gemacht. Im Moment schien ihm nicht nach Reden zumute zu sein. Als er sich den zweiten Glimmstängel angesteckt hatte, sah er mich an.

»Mann, wenn du nicht gewesen wärst ...« sagte er leise. »Ich glaub, von alleine hätte ich da nie angerufen.«

Naja, damit hatte er wahrscheinlich Recht.

»Stefan hat die erste Woche jeden Morgen vor der Schule auf mich gewartet. Der hat extra die Schicht getauscht deswegen. Mann, dabei war ich die ganze Zeit bei ihm im Krankenhaus! Und er läuft währenddessen in der ganzen Stadt rum und sucht nach mir!«

Thomas schüttelte fassungslos den Kopf.

»Warum hab ich Idiot mich nie bei ihm gemeldet? Ich hätte ja im Krankenhaus nur irgendwen nach ihm fragen müssen. Es hätte ihm ja nur irgendjemand Bescheid sagen müssen, dass ich da rumlieg!«

»Hey, du hast halt vorher nie die Erfahrung gemacht, dass sich jemand so richtig Sorgen um dich macht.«

Die Erklärung schien Thomas nicht ganz zufrieden zu stellen. Wieder setzte Schweigen ein. Während er darüber nachbrütete, was er in den letzten Wochen alles hätte anders machen können, fragte ich mich, was Stefan ihm in der letzten Stunde wohl noch so alles erzählt hatte.

»Kannst du dich mal schlau machen, wie Stefan am besten vom Bahnhof hierher kommen kann?« fragte mich Thomas dann, als er die zweite Zigarette ausdrückte.

Schon wieder sorgte er dafür, dass ich auch wirklich immer gut beschäftigt war.

»Vielleicht kann Ludwig ihn ja ...«, setzte ich an.

Ich brach den Satz ab. Das war keine gute Idee. Zumindest dann nicht, wenn wir Stefan hier so einfach ohne Absprache mit Frau Fröschl oder der Klinikleitung hereinschmuggeln wollten.

»Naja, sicher gibt's irgend 'ne Busverbindung«, sagte ich stattdessen. »Ich kann ja mal ganz unauffällig an der Rezeption nachfragen.«

»Hey, gut!«

»Vom Ort aus muss er dann eben laufen. Oder wir holen ihn da ab.«

Ich hatte keine Ahnung, wo es in Bad Neuheim überall Bushaltestellen gab. Danach würde ich mich wohl auch erkundigen müssen.

»Kannst du gleich mal gehen? Dann kann ich Stefan nachher noch mal anrufen.«

Eigentlich hatte ich ja gehofft, zuerst einmal noch mehr über das erste Telefonat zu erfahren.

»Ich wart solange hier«, fügte Thomas noch hinzu.

Wenn er mich so drängte, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich ließ ihn also mit meiner Daunenjacke alleine da draußen stehen, gab die Hoffnung endgültig auf, ihn doch noch mit der Kapuze auf dem Kopf sehen zu dürfen, und fuhr hinunter ins Erdgeschoss.

In der Cafeteria traf ich auf die drei Mädchen. Ich erzählte ihnen kurz von den neuesten Ereignissen und von unserem Plan mit Stefan. Sofort sagten sie mir ihre Unterstützung zu. Naja, auf die Drei war eben Verlass.

Dann fragte ich an der Rezeption nach den Busverbindungen zwischen der Stadt und Bad Neuheim. Ohne irgendwelche lästigen Nachfragen erhielt ich eine Kopie des kompletten Fahrplans. Sogar eine kleine Karte von Bad Neuheim war darauf zu sehen, auf der die Haltestellen markiert waren.

Als ich wieder zurück nach oben kam, saß Thomas bereits drinnen auf dem Sofa. Meine Jacke lag auf einem der Sessel.

»Und? Fährt ein Bus?« wollte er sofort wissen.

»Naja, die Busverbindung hierher ist nicht so besonders. Aber um 17.25 Uhr geht ein Bus. Wenn Stefan den nimmt, dann ist er kurz vor sechs in Bad Neuheim. Dann hätten wir immerhin mehr als genug Zeit, um nach der Gruppensitzung in den Ort zu laufen und ihn an der Haltestelle am Ortsplatz abzuholen. Passt doch ganz gut, oder?«

Thomas war richtig begeistert. Naja, dann hatte sich meine Recherche wenigstens gelohnt.

Ich ging mit ihm hinunter in sein Zimmer. Er wollte Stefan gleich von den Neuigkeiten berichten. Diesmal hatte er ihn auch sofort am Telefon und erzählte ihm, dass er kommen und über das Wochenende hier bleiben konnte.

Dann reichte er mir den Hörer, damit ich kurz mit Stefan die Einzelheiten besprechen konnte. Naja, Thomas hatte eben kein großes Organisationstalent. Auf diese Weise lernte ich Stefan zumindest schon mal am Telefon kennen.

»Hi Stefan, ich bin David«, sprach ich in den Hörer.

»Hallo! Thomas hat mir schon ein bisschen was von dir erzählt.«

»Aha«, antwortete ich kurz.

Was genau hatte Thomas da wohl über mich gesagt?

»Du warst es also, der Thomas endlich dazu gebracht hat, mich anzurufen.«

»Ja, sieht so aus.«

»Hey, da muss ich mich dann wohl echt bei dir bedanken.«

»Schon okay.«

Am anderen Ende der Leitung hörte ich Stefan seufzen.

»Warum hat er sich denn nicht früher gemeldet? Er weiß doch, wie viel er mir bedeutet.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

»Naja, es war gar nicht so einfach, dich ausfindig zu machen«, stammelte ich in den Hörer.

Noch einmal hörte ich Stefan seufzen. Er schien immer noch ziemlich mitgenommen zu sein.

Dann erklärte ich ihm das mit der Busverbindung. Es stellte sich heraus, dass er sich inzwischen bereits selbst nach den Zugfahrplänen erkundigt hatte. Er hatte einfach nicht still herumsitzen und darauf warten können, bis Thomas sich wieder bei ihm meldete. Dabei hatte man ihm auch gleich mitgeteilt, mit welchem Bus er weiterfahren musste, um nach Bad Neuheim zu gelangen. Eigentlich brauchte ich ihm nur noch zu erklären, an welcher Haltestelle wir auf ihn warten würden. Er schien ein recht cleveres Kerlchen zu sein. Außerdem erschien er mir sofort sympathisch.

Als ich alles Notwendige mit ihm geklärt hatte, überließ ich Thomas wieder den Hörer. Jetzt würden die beiden ja hoffentlich ohne mich klar kommen. Inzwischen war Kevin auch sicher vom Gespräch mit Frau Fröschl und von der Maltherapie zurück. Mal sehen, was der so zu erzählen hatte. Außerdem wollte Kevin jetzt sicher auch wissen, was sich inzwischen bei Thomas und Stefan ergeben hatte. Und das berichtete ich ihm dann auch.

Hosted by www.kapuze.org