Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 22 - Coming Home

»Wow!«, entfuhr es mir, als wir endlich am Tor vor dem Grundstück der Familie Winter ankamen. Kevin hatte mir unterwegs schon erzählt, dass ihr Haus von einem bekannten Architekten entworfen worden war - wiederum ein Freund seiner Eltern, der damit irgendeinen Architekturpreis gewonnen hatte. Trotzdem musste ich im ersten Moment spontan meine Bewunderung äußern. Mir war aber gleichzeitig klar, dass dieses extravagante Heim Kevins Familie nicht vor schweren Schicksalsschlägen geschützt hatte. Deshalb vermied ich es, in einen Begeisterungstaumel zu verfallen, sondern unterließ weitere Bemerkungen. Stattdessen wartete ich schweigend, bis Kevin seinen Schlüssel aus der Jackentasche gekramt hatte und mit dessen Hilfe das elektrische Tor zur Seite schwingen ließ, das die Einfahrt ins Grundstück verwehrte.

Unterwegs war Kevins Stimmung tatsächlich besser geworden. Auf dem etwa halbstündigen Fußweg vom Bahnhof bis hierher hatte er sogar sichtlich Freude daran gehabt, mir seine Heimatstadt zu zeigen. Die Reise zuvor, in langsamen Nahverkehrszügen und mit zwei endlos erscheinenden Umsteigeaufenthalten, war zwar nervig gewesen, inzwischen aber längst vergessen. Das Einzige, was mir den Tag jetzt noch vermieste, war das Wetter. Der Himmel war zwar grau und wolkenverhangen, vom Regen waren wir auf unserer Reise aber sehr zu meinem Leidwesen verschont geblieben. Unsere Kapuzen hatten wir beide daher seit dem Einstieg in den Bus am frühen Morgen nicht mehr gebraucht.

Auf dem Weg über den gepflasterten Weg zur Haustür ließ ich meinen Blick weiter in stiller Bewunderung über das Haus und das Grundstück schweifen.

»Los, komm schon rein!« musste mich Kevin daher extra auffordern, nachdem er die Haustür aufgesperrt hatte. »Wenn du willst, kannst du dir das später noch alles in Ruhe anschauen. Ich hab jetzt Hunger. In der Kühltruhe gibt’s bestimmt Tiefkühlpizza. Ist das okay für dich?«

»Klar«, willigte ich sofort ein. Auch mir knurrte inzwischen der Magen. Die Mittagszeit war längst vorbei und wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Von innen wirkte das Haus nicht ganz so spektakulär. Es war modern eingerichtet, unterschied sich aber diesbezüglich nicht sehr von anderen Häusern. Kevin ließ mir nicht viel Zeit, um mich umzusehen und durch die offenen Türen in die anderen Räume zu blicken, sondern stürmte sofort voraus in die Küche. Es schien, dass er nach der langen Abwesenheit überhaupt keine langsame Wiedereingewöhnung nötig hatte. Ich blieb neben der Küchentür stehen und sah ihm dabei zu, wie er die Kühltruhe durchwühlte und schließlich drei quadratische Packungen hochhielt.

»Pizza Salami, Pizza Mozzarella oder Pizza Funghi?«

»Mag ich eigentlich alle«, erwiderte ich.

»Dann machen wir die mit Salami und die mit Mozzarella. Auf Pilze bin ich grad nicht scharf. Wenn du willst, kannst du dann von jeder die Hälfte haben. Okay?«

»Perfekt!«, stimmte ich zu. Mir lief bei dem Gedanken an die fruchtige Tomatensoße und den zerlaufenen Käse schon das Wasser im Mund zusammen.

Kevin schaltete den Backofen ein und bereitete die beiden Pizzen vor. Als er sie in den Ofen geschoben hatte und keine Anstalten machte, die Küche wieder zu verlassen, fragte ich ihn: »Willst du dich nicht mal im Haus umsehen? Du warst schließlich schon lange nicht mehr hier.«

»Später« war die einzige Antwort, die ich erhielt.

Da ich mich nicht traute, allein das fremde Haus zu erkunden, bleib ich in der Küche, setzte mich an den Tisch und ließ mir ein Glas Cola einschenken.

Nachdem wir unsere Mahlzeit verspeist und gemeinsam das Geschirr abgespült hatten, bemerkte ich beim Blick durch eines der Küchenfenster, dass draußen nun doch noch der Regen eingesetzt hatte. Leise grummelte ich vor mich hin: »Na toll! Das hätte ruhig schon vorhin regnen können, als wir auf dem Weg hierher waren.«

Kevin hatte meine Bemerkung gehört und reagierte sofort: »Hey, im Gegensatz zu dir fand ich das trockene Wetter vorhin schöner.«

»Wir könnten ja jetzt noch mal rausgehen und uns weiter die Gegend ansehen«, schlug ich mit einem frechen Grinsen vor.

Kevin grinste kurz zurück, wurde aber gleich darauf ziemlich ernst.

»Ich würde jetzt gerne mal rauf in mein Zimmer gehen«, sagte er zögerlich. »Ich meine, dass ich erst mal eine Weile ganz alleine da oben sein möchte. Verstehst du?«

Natürlich verstand ich das. Ich hatte mich ja sowieso schon gewundert, warum Kevin mich so schnell in die Küche geschleppt hatte, ohne die anderen Räume auch nur zu beachten. War das vielleicht eine Art Flucht gewesen, um die tatsächliche Rückkehr in dieses Haus noch eine Weile hinauszuzögern?

»Klar, ist absolut okay.«

»Wie wär’s, wenn du dich alleine draußen umsiehst? Setz deine Kapuze auf und lass dich ’ne Weile nass regnen.« Seine ernste Miene war schon wieder einem Schmunzeln gewichen.

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und willigte sofort ein.

»Hier, nimm den Schlüssel mit und komm einfach rein, wenn du genug hast oder total durchgeweicht bist.«

»So doll regnet’s jetzt auch wieder nicht«, erwiderte ich und verdrehte dabei die Augen.

Während Kevin die Treppe in den ersten Stock hinaufging, schlüpfte ich wieder in meine Jacke und verließ das Haus. Noch bevor ich hinaus in den Regen trat, hatte ich auch schon die Sweatshirtkapuze über den Kopf gestreift. Am liebsten hätte ich jetzt auch noch den Reißverschluss hinten am Kragen meiner Jacke geöffnet, die dünne Nylonkapuze herausgeholt, über die Sweatkapuze gezogen und anschließend beide Kapuzen fest zugebunden. Ich fand aber sofort mehrere Gründe, dies nicht zu tun. Zum einen war der Regen nicht wirklich stark. Außerdem wäre ich mir so ausstaffiert trotz der damit verbundenen Erregung ziemlich blöd vorgekommen. In Kevins Wohngegend war es zwar ziemlich ruhig und es kannte mich hier auch niemand. Trotzdem wäre es mir peinlich gewesen, in solch einem Outfit jemandem zu begegnen. Es war mir noch nicht mal Recht, wenn Kevin mich aus einem der Fenster so sehen würde. Schließlich beließ ich es dabei, die Kordel der Sweatshirtkapuze etwas enger zu ziehen, so dass auch meine Stirn vor den Regentropfen geschützt war, und begann meine Erkundungstour damit, dass ich mir Kevins Haus von der Einfahrt aus nochmals genau ansah.

Das zweistöckige Haus setzte sich aus mehreren Quadern zusammen. Dabei bildete ein großer Quader die Grundform. Zwei längliche Quader mit Glasfronten an den Enden, die ein Stück über die Mauern unter ihnen ragten, waren links außen und in der Mitte in die Grundform eingelassen und schienen quasi mit dem Obergeschoss des Gebäudes verschmolzen zu sein. Ein ähnlicher Quader ragte auf der rechten Seite im Erdgeschoss hervor. Am Rest des Gebäudes zierten große Fenster die weiße Fassade. Bei der ein paar Meter entfernt stehenden Doppelgarage setzte sich das Verwirrspiel aus Ecken und Kanten fort, wobei man hier jedoch auf große Glasflächen verzichtet hatte.

Ich machte mich auf den Weg um das Haus herum. Da das Gebäude an einem Hang erbaut worden war, führten mich zunächst ein paar Treppenstufen nach unten. Dann erstreckte sich vor mir eine große Rasenfläche, die an beiden Seiten von Büschen und Bäumen flankiert wurde. Nach vorne hin hatte man einen guten Ausblick über die ganze Stadt. Als ich mich zum Haus umwandte, entdeckte ich durch die Glasfront im Untergeschoss einen Swimmingpool. Von dem hatte mir Kevin schon erzählt und mich am Morgen extra noch einmal daran erinnert, eine Badehose mitzubringen. Als ich alles ausgiebig betrachtet hatte, machte ich mich wieder auf den Rückweg zur anderen Hausseite. Der Regen war mittlerweile schon wieder schwächer geworden. Als ich über den Baumwollstoff meiner Kapuze strich, fühlte sich dieser zwar feucht an, er war aber noch lange nicht durchgeweicht. Ich entschied mich daher, noch ein wenig länger im Freien zu bleiben und verließ das Grundstück durch ein schmales Seitentor, das ich problemlos mit einem von Kevins Schlüsseln öffnen konnte. Die Straße vor dem Grundstück wirkte wie ausgestorben. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Ich lief ein Stück den Gehsteig entlang und begutachtete die anderen Grundstücke. Die Wohngegend war zweifellos den wohlhabenderen Einwohnern der Stadt vorbehalten. Trotzdem konnte es keines der übrigen Häuser architektonisch mit dem der Winters aufnehmen.

Als ich wieder am großen Tor vor der Einfahrt ankam, steckte ich den mit ‚Tor’ beschrifteten Schlüssel in das in eine Säule eingelassene Schloss und ließ die breite metallene Pforte aufschwingen, genau wie Kevin dies vorhin getan hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es nach einer Weile von alleine wieder zugehen würde, deswegen blieb ich wartend auf dem Grundstück stehen. Nichts passierte. Ich lief zurück zur Säule, um es nochmals mit dem Schlüssel zu versuchen. Der Anblick eines Radfahrers ließ mich innehalten. In all der Zeit, die ich hier draußen verbracht hatte, war dies der erste Mensch, der mir begegnete. Da ich erkennen konnte, dass die Gestalt als Schutz vor dem immer noch leicht herabplätschernden Regen eine Kapuze aufgesetzt hatte, wartete ich, bis sie näher kam. Der Radler war eindeutig männlich. Als er noch etwa 50 Meter entfernt war, erkannte ich im Schatten unter der Kapuze ein noch relativ junges Gesicht. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Auch wenn die Jacke, die er da anhatte, nicht unbedingt meinem Geschmack entsprach und außerdem eine feste Kapuze aufwies, die man aufsetzen konnte, ohne damit uncool zu wirken, konnte ich nicht umhin, den Anblick in meinem Gehirn abzuspeichern. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, von mir angestarrt zu werden, wandte ich mich rechtzeitig bevor er an mir vorbeifuhr wieder der Säule zu. Entgegen meinen Erwartungen fuhr der Junge aber nicht auf der Straße weiter, sondern bog dicht hinter meinem Rücken durch das noch immer geöffnete Tor in die Einfahrt ein. Er trat in dem Moment kräftig auf die Bremse, als das Hinterrad die Grundstücksgrenze überrollt hatte und blieb knapp zwei Meter vor mir stehen.

»Hi!«, rief er mir zu. »Man kann das Tor auch vom Haus aus schließen.«

»Oh, das wusste ich nicht«, erwiderte ich lahm, zu erstaunt und überrumpelt, um seine Begrüßung zu erwidern.

»Du bist sicher David, oder?«

»Ja, der bin ich.« Jetzt war ich noch verwirrter. Woher kannte der Typ meinen Namen? Ich sah ihn mir genauer an. Er wirkte eher blass und hatte Sommersprossen im Gesicht, wenn auch nicht übermäßig viele. Unter der Kapuze lugten ein paar rote Locken hervor. Insgesamt war er nicht unattraktiv. Nur die schwarze Winterjacke aus Baumwollstoff mit der angeschnittenen Kapuze fand ich eher langweilig. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass der Anblick mir gefiel. Wie gut, dass ich selbst darauf verzichtet hatte, mich in zwei Kapuzen einzupacken. Vor ihm in solch einem Outfit dazustehen, wäre mir unendlich peinlich gewesen.

Mittlerweile war er von seinem Mountainbike abgestiegen und streckte mir seine rechte Hand entgegen, während er mit der linken weiter sein Rad festhielt.

»Hallo«, begrüßte er mich nochmals. »Ich bin Enrico Heymann. Kevin hat dir sicher schon was über mich erzählt.«

Ich schüttelte seine Hand und sagte ebenfalls Hallo. Ich erinnerte mich, dass ich in der vergangenen Woche seinen Anruf entgegen genommen hatte und fragte: »Dann warst du das also vor ein paar Tagen am Telefon?« »Wo ist Kevin denn?«, wollte er sofort wissen, nachdem er bejahend genickt hatte.

»Der wollte rauf in sein Zimmer, eine Weile für sich allein sein. Sich hier wieder eingewöhnen oder so. Ich bin alleine noch mal raus, um mal ein bisschen die Gegend zu erkunden und mir das Haus noch mal von außen anzusehen.«

»Sieht schon stark aus, oder?«

»Ja«, musste ich zugeben. »In so ’nem Haus wohnt nicht jeder.«

»Wolltest du gerade wieder reingehen?«

»Ja. Ich hab von Kevin den Schlüssel«, erwiderte ich und hielt den Schlüsselbund hoch.

»Ich stell noch schnell mein Fahrrad da unter.« Er deutete auf eine überdachte Fläche neben der Garage.

Ich wartete, bis er wieder zurück war und ging dann neben ihm zurück zum Haus. Als er sich im Eingangsbereich die Kapuze vom Kopf schob, kam ein roter Lockenkopf zum Vorschein. Ich erinnerte mich, dass ich ihn mir nach unserem kurzen Telefonat wegen seines Namens unwillkürlich als schwarzhaarigen, braungebrannten Südländer vorgestellt hatte. Vielleicht war ich deswegen nicht von selbst auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Jungen, der da auf das Grundstück der Winters eingebogen war, um Kevins Kumpel Enrico handelte.

Ich schloss die Tür auf und wir traten ein. Enrico zeigte mir sogleich den Knopf, mit dem man das Tor schließen konnte. Während ich in der geöffneten Haustür stehen blieb und zusah, wie es langsam zuschwang, hatte Enrico schon seine Jacke ausgezogen. Ich tat es ihm gleich und streifte auch endlich die Kapuze vom Kopf.

»Dann lass uns mal nach Kevin sehen«, schlug ich vor und rief laut dessen Namen. Als auch nach einigen Augenblicken keine Antwort zu hören war, rief ich noch einmal nach ihm.

»Wir schauen einfach mal nach oben«, ergriff Enrico schließlich die Initiative.

Zögerlich stieg ich hinter ihm die Treppe hinauf. Während er sich hier anscheinend gut auskannte, vielleicht sogar heimisch fühlte, kam ich mir wie ein Eindringling vor.

»Kevin, wo steckst du?«, rief Enrico leise, als er die oberste Stufe erreicht hatte. Er blieb einen Moment stehen und sah sich um.

»Die Tür von Marcos Zimmer ist offen«, flüsterte er mir erschrocken zu. »Du weißt ja sicher über Marcos Unfall Bescheid, oder?«

Ich nickte kurz und wir gingen ein paar Schritte weiter.

»Kevin, bist du da drin?«, rief er leise in Richtung der offenen Zimmertür.

»Ja, ich bin hier«, kam es leise zurück.

Ich war erleichtert, dass Kevin endlich antwortete. Ich hatte schon begonnen, mir Sorgen zu machen. Inzwischen war Enrico direkt vor die Öffnung getreten und blickte ins Zimmer. Ich trat ängstlich schräg hinter ihn und spähte über seine Schulter hinweg ebenfalls in den Raum. Kevin saß von der Tür abgewandt in der Mitte des Zimmers auf dem Boden, sah aber über die Schulter zu uns her. Er sah richtig traurig aus.

»Eigentlich wollte ich gar nicht hier reingehen«, sagte er. »Ist immer noch alles so wie früher hier drin. So als ob Marco nur kurz weg wäre.«

Es folgte eine Pause, in der er den Kopf wieder von uns abwandte.

»Ich weiß nicht, was mich hier reingezogen hat«, fuhr er nach einer Weile leise fort, während er sich langsam vom Boden erhob. »Irgendwie musste ich mir das alles einfach mal wieder ansehen.«

Es schien ihn einige Kraft zu kosten, ein leichtes Lächeln in Enricos Richtung zustande zu bringen. Als er seinem Freund schließlich entgegentrat, schien sein Gesichtsausdruck aber doch Wiedersehensfreude widerzuspiegeln.

»Hi, Enrico!«

»Hi, Kevin!«

Die beiden nahmen sich kumpelhaft in den Arm und klopften einander mehrmals auf die Schulter.

»Lang nicht mehr gesehen, was?« bemerkte Enrico betont locker.

Als die beiden sich wieder voneinander gelöst hatten, wischte Kevin sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

»Keine Sorge, ich bin schon okay«, wehrte er ab, bevor Enrico oder ich irgendetwas sagen konnten.

»Lasst uns runter gehen«, forderte er uns schließlich auf und schloss die Zimmertür hinter sich.

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