Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 5 - Veränderungen

Die Nacht verlief diesmal ohne Probleme. Die Schlaftablette, die Kevin sich vor dem zu Bett gehen in der Zentrale abgeholt hatte, dürfte daran nicht ganz unschuldig gewesen sein. Ich konnte endlich das Schlafdefizit der letzten beiden Nächte ausgleichen. Falls Kevin während der Nacht Albträume gehabt haben sollte, hatte ich davon zumindest nichts mitbekommen. Ich hatte die ganze Zeit über tief und fest geschlafen und Kevin konnte sich am Morgen an keine schlechten Träume erinnern.

Bis zur Therapiegruppe am Nachmittag schien sich der Tag dann endlos lang hinzuziehen. Ich nutzte jede Gelegenheit, um Kevin Mut zu machen, sich heute in der Gruppe zu öffnen. Als es dann endlich soweit war, kam aber alles ganz anders. Um es kurz zu machen, die Gruppenstunde verlief unglaublich zäh. Dies lag nicht zuletzt an unserer Psychologin, die ihre schlechte Laune nur mühsam vor der Gruppe verbergen konnte. Nachdem sie einige Kommentare zur vorherigen Stunde abgegeben hatte, mit denen keiner von uns so recht etwas anfangen konnte, schien die Stimmung im Raum irgendwie angespannt zu sein. Keiner von uns wusste so recht, was nun geschehen sollte, und wir sahen uns mehr als einmal achselzuckend an. Die immer wiederkehrende Frage von Frau Fröschl, wer denn nun etwas sagen möchte, führte jedes Mal nur kurz zu irgendwelchen mehr oder weniger belanglosen Äußerungen von Seiten der Gruppe. Dass Kevin sich in dieser Atmosphäre nicht öffnen konnte, war nur zu verständlich.

Irgendwann waren die anderthalb Stunden schließlich vorbei.

»Das lief aber recht zäh heute«, meinte Frau Fröschl am Ende. »Hoffentlich wird das nächste Woche besser, wenn Sie zu sechst sind. Ihr verschollenes Gruppenmitglied wird am Wochenende doch noch eintreffen. Vielleicht können Sie ihn ja am Sonntag vom Bahnhof abholen, damit Sie ihn gleich etwas besser kennen lernen. Sonst läuft das hier am Montag wieder so schleppend wie heute.«

Sie teilte uns mit, dass wir an der Rezeption Bescheid sagen sollten, falls wir im VW-Bus mit zum Bahnhof fahren wollten. Als sie gegangen war, blieben wir wieder noch eine Weile im Raum. Kevin ließ den Kopf hängen und ärgerte sich über sich selbst.

»Hey, dann eben am Montag«, munterte ich ihn auf.

»Na toll, wenn dann ein Neuer dabei ist, den ich noch nicht so gut kenne wie euch, wird das garantiert wieder nichts«, antwortete er niedergeschlagen.

»Was ist los?« fragte Gudrun, die uns gehört hatte.

»Ach, Kevin wollte heute eigentlich reden«, antwortete ich.

Gudrun sah Kevin mitfühlend an.

»Und ausgerechnet dann muss die Fröschl hier so 'ne miese Stimmung verbreiten«, meinte sie verständnisvoll.

Nadine und Christina hatten sich inzwischen auch zu uns gesellt.

»Irgendwie ist mir die Fröschl unsympathisch«, meinte Nadine.

»Nicht nur dir«, erwiderte ich. »Ich hab das Gefühl, das geht uns allen so.«

Ich erntete zustimmendes Nicken.

»Meinst du, du kannst reden, wenn nur wir fünf zusammen sind?« fragte Gudrun Kevin nach einer Weile.

Er zuckte mit den Schultern.

Ohne lange zu fackeln ergriff Gudrun die Initiative.

»Kommt ihr alle mit?« fragte sie uns.

Ohne zu wissen, was sie genau vorhatte, folgten wir ihr hinaus in den Aufzug. Wir fuhren ganz nach oben. Hier befand sich nur ein großer Raum mit mehreren Sitzgruppen und einer großen Glasfront, die den Blick auf das Flachdach des Klinikgebäudes freigab. Eine Tür führte hinaus auf eine Dachterrasse. Im Winter verirrte sich kaum jemand hierher. Nur ab und zu kamen ein paar Raucher herauf, um auf der Terrasse ihre Sucht zu befriedigen. Da es draußen wieder einmal kalt und ungemütlich war, bevorzugten aber auch diese heute die beiden Aufenthaltsräume, in denen Rauchen erlaubt war. Außer uns waren der Raum und die Terrasse deshalb völlig menschenleer.

Wir setzten uns an einen der Tische. Kevin nahm zwischen Gudrun und mir auf einem einigermaßen bequemen Sofa Platz, während sich Nadine und Christina auf zwei Sesseln niederließen.

»Macht's euch erst mal bequem«, sagte Gudrun. »Lass dir nur Zeit Kevin, du musst nicht gleich anfangen zu reden. Und wenn's nicht geht, ist's auch in Ordnung, okay?«

Kevin nickte dankbar.

»Und sag, wenn wir dir mit irgendwas helfen können, ja?« fuhr Gudrun fort.

»Es geht schon. Ich weiß nur nicht, mit was ich anfangen soll«, antwortete Kevin.

»Soll ich deine Hand nehmen?« fragte Gudrun ihn.

Er nickte und streckte seine rechte Hand zu ihr hinüber. Sie umschloss sie mit ihren beiden Händen und Kevin lächelte ihr dankbar zu. Als ich ihm dann noch meine Hand auf die Schulter legte, schien er tatsächlich bereit zu sein.

»Mein Bruder ist vor kurzem gestorben. Er hieß Marco und war 16, knapp zwei Jahre jünger als ich«, begann er zögerlich mit seinem Bericht. Er erzählte ausführlich von der Fahrradtour. Die beiden Brüder waren sich sehr nahe gestanden und hatten öfters etwas zu zweit unternommen. Nachdem der Unfall passiert war, hatte Kevin sofort Erste Hilfe geleistet. Nur wenige Wochen zuvor hatte er für den Führerschein einen entsprechenden Kurs absolviert. Marco war nur noch kurz bei Bewusstsein gewesen. Kevin berichtete, wie er dann auf der wenig befahrenen Straße verzweifelt auf ein Auto gewartet hatte und wie er sich schließlich mitten auf die Straße gestellt hatte, um einen Autofahrer zum Anhalten zu zwingen. Dieser hatte dann zwar sofort mit seinem Handy den Notarzt alarmiert, war danach aber eher unbeteiligt herumgestanden, während Kevin sich weiter um seinen Bruder gekümmert hatte. Die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungswagens musste Kevin wie eine Ewigkeit erschienen sein. Als die Sanitäter endlich eingetroffen waren, hatte Kevin sich zunächst unendlich erleichtert gefühlt. Er war dann im Krankenwagen mitgefahren und irgendwann unterwegs zur Klinik hatte ihm der Notarzt dann mitgeteilt, dass sein Bruder seinen schweren Verletzungen erlegen sei. In diesem Moment musste Kevins Welt völlig zusammengebrochen sein, denn ab diesem Zeitpunkt konnte er sich an kaum noch etwas klar erinnern. Die Ankunft seiner Eltern in der Klinik hatte er nur noch verschwommen im Gedächtnis.

Als Kevin diesen Teil seines Berichtes beendet hatte, liefen ihm die Tränen herunter. Ich streichelte ihm über die Schulter und Gudrun strich ihm sanft über den Handrücken. Die beiden anderen sahen ihn mitfühlend an. Christina hatte ebenfalls Tränen in den Augen.

Kevin brauchte eine Weile, bevor er sich wieder einigermaßen gefasst hatte und weitererzählen konnte.

Von der Zeit unmittelbar nach Marcos Tod berichtete er kaum. Ich hatte das Gefühl, er konnte den Zustand, in dem er sich nach dem Tod seines Bruders befunden hatte, ohnehin kaum mit Worten beschreiben. Dafür erzählte er ein wenig von seinem Suizidversuch und der Zeit in der Psychiatrie. Als er fertig war, blieb er mit hängendem Kopf sitzen.

»Hey, du hast's geschafft«, flüsterte ich ihm zu und strich ihm sanft die Haare aus dem Gesicht.

Er sah mich an und schaffte ein gequältes Lächeln.

»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte ich vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern.

»Irgendwie schon. Naja, ich weiß noch nicht.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Komm, steh auf«, sagte ich leise. »Da sind ein paar Leute, die dich jetzt erst mal in den Arm nehmen wollen.«

Wir standen alle auf und umarmten Kevin der Reihe nach. Das schien ihm richtig gut zu tun. Er war wirklich gerührt und wusste nicht, was er sagen sollte. Danach saßen wir noch eine ganze Weile beieinander und fühlten uns zum ersten Mal richtig als Gruppe, in der jeder für den anderen da war.

Auch den gesamten Abend verbrachten wir miteinander. Obwohl wir auch diesen Abend wieder mit Gesellschaftsspielen verbrachten, war das Gefühl, das ich dabei hatte, diesmal ein völlig anderes. Ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, mit wirklichen Freunden am Tisch zu sitzen.

Als ich mit Kevin zurück auf unser Zimmer ging, war es bereits nach Mitternacht. Ich machte mir ein wenig Sorgen, wie Kevin die Nacht ohne Schlaftablette überstehen würde. Der Tag war ziemlich aufwühlend für ihn gewesen, obwohl er ein gutes Ende genommen hatte.

»Hast du Angst vor der Nacht?« fragte ich ihn, als wir auf unseren Betten saßen.

Er zuckte nur mit den Schultern.

»Hey, ich bin da, falls du Hilfe brauchst, okay?« sagte ich. »Du kannst mich ruhig aufwecken.«

»Okay«, antwortete er. Trotzdem wirkte er wieder ein wenig bedrückt.

Während er im Bad war, fasste ich deshalb einen Entschluss. Zuerst hatte ich geplant, unsere Betten aneinander zu schieben, musste aber feststellen, dass diese mit der Wand verschraubt waren. Also räumte ich den Tisch und die Stühle an die Seite. Die freie Bodenfläche war groß genug für unsere beiden Matratzen. Als Kevin wieder aus dem Bad kam, lagen die beiden Matratzen nebeneinander auf dem Boden. Erstaunt blieb er stehen.

»Was hältst du davon?« fragte ich ihn.

Er musste grinsen.

»Sag schon«, forderte ich ihn auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtige gemacht hatte.

»Wenn du heute Nacht wieder die Ärztin für mich holen musst, dann haben wir ein Problem«, antwortete er nach einer Weile.

Sein Humor war wieder zurückgekehrt, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

»Wenn's dir nicht gefällt oder dir irgendwie unangenehm ist, dann lassen wir's«, sagte ich.

»Nein, ist gut so«, antwortete er.

Nachdem ich ebenfalls im Bad gewesen war, legten wir uns auf die beiden Matratzen, dicht nebeneinander, aber natürlich jeder unter seiner eigenen Decke. Es dauerte nicht lange und wir waren beide eingeschlafen.

Irgendwann in der Nacht wurde ich wach. Mein Wecker stand immer noch neben meinem Bett. Hier von der auf dem Boden liegenden Matratze aus konnte ich darauf keinen Blick werfen. Kevin schlief unruhig. Ich hörte, wie er im Schlaf leise nach seinem Bruder rief. Er schien wieder einen Albtraum zu haben. Sollte ich ihn aufwecken? Oder einfach schlafen lassen und hoffen, dass er sich nach dem Aufwachen an nichts mehr erinnerte? Ich entschied mich für die zweite Alternative. Ängstlich blieb ich liegen und beobachtete Kevins Bewegungen unter der Bettdecke. Mit der Zeit schien er etwas ruhiger zu werden. Als ich bereits dachte, er würde in Kürze wieder ruhig weiterschlafen, schlug er mit einem lauten Seufzer die Augen auf.

»Alles klar?« flüsterte ich zu ihm hinüber.

Er drehte sich zu mir um und sah mich in der Dunkelheit an.

»Geht schon«, sagte er leise.

»Wirklich?«

»Ja, war nicht so schlimm diesmal.«

»Du hast im Schlaf nach deinem Bruder gerufen.«

»Wirklich?«

»Ja, ein paar Mal. Ich dachte schon, du wachst gleich auf. Du hast dich dann aber wieder etwas beruhigt.«

»Ich kann mich kaum an den Traum erinnern.«

»Sei froh!«

»Bin ich auch.«

»Meinst du, du kannst wieder einschlafen?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Wie spät ist es?« wollte er wissen.

»Keine Ahnung, kann den Wecker nicht sehen.«

»Is auch egal.«

»Versuch wieder einzuschlafen, okay?«

Ich sah ihn im Dunkeln nicken. Er drehte sich auf die Seite und wandte mir den Rücken zu. Ich wollte schon wieder die Augen schließen, um ebenfalls zu versuchen, wieder Schlaf zu finden, als er mit dem Rücken näher an mich heranrutschte. Er kam bis zum Rand seiner Matratze. Wortlos rückte ich zu ihm hinüber und legte einen Arm um seinen Körper. Ich fühlte, wie er sich eng an mich herankuschelte. Irgendwann waren wir beide dann tatsächlich wieder eingeschlafen.

Als wir am Morgen aufwachten, war es bereits kurz nach neun Uhr. Kevin schien keine weiteren Albträume mehr gehabt zu haben.

»Wird Zeit, dass wir die Matratzen wieder in die Betten legen«, war einer der ersten Sätze, die er sagte. War ihm die ganze Sache inzwischen doch etwas peinlich?

Normalerweise kam irgendwann nach Neun das Reinigungspersonal in die Zimmer. Man konnte zwar das 'Bitte nicht stören'-Schild außen an die Türklinke hängen, dies hatten wir jedoch versäumt. Noch bevor wir uns anzogen, räumten wir deshalb das Zimmer auf und stellten auch Tisch und Stühle an die angestammten Plätze zurück.

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