Dies ist eine Leseprobe aus dem Roman »Winterregen« von Robin, den du in voller Länge im Story-Bereich auf der Seite www.kapuze-aufsetzen.net lesen kannst.
Ich verließ das Zimmer, holte mir schnell einen meiner Romane und meine Daunenjacke und fuhr dann in den obersten Stock. Wieder hatte sich keine Menschenseele hierher verirrt. Ich blickte durch die breite Glasfront nach draußen. Es regnete. Ich hatte vorhin in Thomas' Zimmer gar nicht bemerkt, dass es damit angefangen hatte. Die Detektivarbeit am Telefon hatte mich wohl so sehr in Anspruch genommen, dass ich kein einziges Mal aus dem Fenster gesehen hatte.
Ich setzte mich auf eines der Sofas und schlug mein Buch auf. Natürlich war ich wieder viel zu aufgewühlt, um auch nur einen einzigen Satz bewusst aufzunehmen. Naja, Andreas Steinhöfel würde es mir wohl nicht weiter übel nehmen, wenn ich seinen Roman 'Die Mitte der Welt' erst dann las, wenn ich wieder zu Hause war. Was ich hier in der Klinik so alles erlebte, war ohnehin aufregender als jede erfundene Geschichte. Ich legte das Buch zur Seite und schlüpfte in meine Daunenjacke. Wenn es schon mal regnete, musste ich das schließlich ausnützen. Ich schloss den Reißverschluss bis zum Kinn, holte die dünne Kapuze aus dem Jackenkragen und zog sie mir über den Kopf. So verpackt trat ich hinaus auf die Terrasse.
Ich stellte mich ganz nach vorne an das Geländer, ließ den Regen auf mich herabtropfen und blickte in die Ferne. Nicht, dass man von hier aus besonders weit sehen konnte. Hinter den Baumskeletten entlang der Straße waren gerade noch die Häuser eines Nachbarortes zu erkennen, der höchstens zwei Kilometer entfernt lag. Ich zog die Kapuze noch etwas fester zu und vergrub meine Hände dann in den Jackentaschen. Der Wind kam von hinten und blies mir die Regentropfen so wenigstens nicht ins Gesicht. Ich ließ meinen Blick schweifen und fragte mich, ob es irgendwo da draußen einen netten, einfühlsamen schwulen Jungen gab, für den Sex nicht unbedingt an erster Stelle stand und der es vielleicht stattdess n genauso genoss wie ich, mit einer Kapuze auf dem Kopf im Regen zu stehen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie auf die Kapuze niederprasselten. Oder war ich da vielleicht doch der einzige auf diesem Planeten, der so etwas mochte? Und wie sollte ich diesen anderen Jungen, falls er denn wirklich existierte, jemals finden?
'I'm a creep. I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here.'
Der Text eines Songs von Radiohead ging mir durch den Kopf. Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, ob der überhaupt zu meiner Situation passte. Vielleicht sollte ich endlich mal genauer hinhören, wenn das Lied wieder einmal im Radio gespielt wurde. Zumindest gefiel mir dieser Refrain irgendwie.
Nach einer Viertelstunde wurde es mir dann doch zu nass. Irgendwie war die dünne Kapuze nicht besonders wasserdicht. Ich ging wieder nach drinnen und entledigte mich meiner inzwischen patschnassen Daunenjacke. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Thomas jetzt bald kommen würde. Er war einfach nicht der Typ bei dem ich mir vorstellen konnte, dass er stundenlange Telefongespräche führte, auch wenn am anderen Ende der Leitung sein Boyfriend war, den er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Aber vielleicht war Stefan ja gesprächiger. Und de würde wohl auch genug zu erzählen haben. Zum Beispiel von seinem Coming-Out bei seiner Familie.
Nervös lief ich eine Weile hin und her und hörte zu, wie der Aufzug mal nach oben, mal nach unten fuhr. Bis hier herauf kam er die ganze Zeit über nicht. Irgendwann setzte ich mich dann wieder auf die Couch.
Als nach über einer Stunde doch endlich die Fahrstuhltüre aufging, hatte ich schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass Thomas überha pt noch kommen würde. Eigentlich hatte ich ja auch erwartet, dass er dann zumindest über das ganze Gesicht strahlen würde, aber als er jetzt tatsächlich hier auftauchte, wirkte er eher deprimiert.
»Oh Mann, ich hab da wohl echt ganz schön Scheiße gebaut«, war das erste, was er sagte. »Stefan ging's ganz schön dreckig in letzter Zeit. Und ich bin schuld dran, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet hab!«
»Und sonst? Was ist jetzt mit euch beiden?« wollte ich neugierig wissen.
Endlich lächelte er mich an.
»Er will herkommen, gleich morgen!«
»Hey, dann ist also zwischen euch alles in Ordnung?«
»Ich glaub schon.«
Na also, jetzt strahlte er doch noch.
»Meinst du, er kann hier über Nacht bleiben, so über's Wochenende?« wollte Thomas von mir wissen. Er schien bei diesem Gedanken ganz aufgeregt zu sein.
»Wer sollte was dagegen haben? Außer den Putzfrauen kommt ja niemand in di Zimmer. Und am Wochenende kümmert sich kein Schwein darum, wer alles in der Klinik rumläuft.«
»Nicht, dass wir Ärger bekommen.«
»Die werden uns schon nicht gleich rauswerfen.«
Hoffentlich stimmte das auch. So ganz sicher war ich mir da dann doch nicht. Während ich noch darüber nachdachte, holte Thomas seine Zigaretten und sein Feuerzeug aus einer der Taschen seiner Cargopants. Darauf hatte ich ja schon gewartet.
»Scheiße, jetzt hab ich nicht mal meine Jacke mitgebracht«, fluchte er, als er draußen den Regen sah.
»Deine hat ja sowieso keine Kapuze, oder?«
»Nö.«
»Du kannst ja meine nehmen.«
»Und du?«
»Naja, ich bleib halt in der Tür stehen. Außerdem war ich grad schon draußen. Ich muss da jetzt nicht noch mal raus.«
Eigentlich hatte ich ja jetzt mit irgendeiner Reaktion von ihm gerechnet. Dass er mir die Frage stellen würde, warum ch denn bei diesem Wetter überhaupt draußen gewesen war. Oder dass er vielleicht gleich irgendeine Bemerkung über meine Leidenschaft für Kapuzen machen würde. Aber ich hatte wohl vergessen, dass ich es hier mit Thomas zu tun hatte. Und der hatte eben irgendwie kein so rechtes Gespür dafür, was andere Leute so fühlten. Wie anders war es zu erklären, dass er bis gestern anscheinend nicht einen Moment daran gedacht hatte, dass Stefan sich vielleicht wahnsinnige Sorgen um ihn machen könnte?
So reichte ich ihm einfach meine Daunenjacke. Die war inzwischen wieder ziemlich trocken. Er schlüpfte hinein und schloss den Reißverschluss. Während er sich die erste Zigarette anzündete, öffnete ich ihm die Türe und er trat hinaus ins Freie. Mein Blick fiel auf die Kapuze, die lose an seinem Rücken herabhing. Eigentlich hätte ich ihn ja gerne mal mit dieser Kapuze auf dem Kopf gesehen, aber da er sie nicht von selbst aufsetzte, wollte ich ihn auch nicht darauf ansprechen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Glasfront. So dicht an der Wand war er sowieso ganz gut vor dem Regen geschützt. Ich stellte einen Fuß in die Tür und sah durch den offenen Spalt zu ihm hinaus.
Schweigend rauchte er die erste Zigarette. Seine kurze Euphorie war bereits wieder verflogen und hatte einer eher nachdenklichen Stimmung Platz gemacht. Im Moment schien ihm nicht nach Reden zumute zu sein. Als er sich den zweiten Glimmstängel angesteckt hatte, sah er mich an.
»Mann, wenn du nicht gewesen wärst ...« sagte er leise. »Ich glaub, von alleine hätte ich da nie angerufen.«
Naja, damit hatte er wahrscheinlich Recht.
»Stefan hat die erste Woche jeden Mor en vor der Schule auf mich gewartet. Der hat extra die Schicht getauscht deswegen. Mann, dabei war ich die ganze Zeit bei ihm im Krankenhaus! Und er läuft währenddessen in der ganzen Stadt rum und sucht nach mir!«
Thomas schüttelte fassungslos den Kopf.
»Warum hab ich Idiot mich nie bei ihm gemeldet? Ich hätte ja im Krankenhaus nur irgendwen nach ihm fragen müssen. Es hätte ihm ja nur irgendjemand Bescheid sagen müssen, dass ich da rumlieg!«
»Hey, du hast halt vorher nie die Erfahrung gemacht, dass sich jemand so richtig Sorgen um dich macht.«
Die Erklärung schien Thomas nicht ganz zufrieden zu stellen. Wieder setzte Schweigen ein. Während er darüber achbrütete, was er in den letzten Wochen alles hätte anders machen können, fragte ich mich, was Stefan ihm in der letzten Stunde wohl noch so alles erzählt hatte.
»Kannst du dich mal schlau machen, wie Stefan am besten vom Bahnhof hierher kommen kann?« fragte mich Thomas dann, als er die zweite Zigarette ausdrückte.
Schon wieder sorgte er dafür, dass ich auch wirklich immer gut beschäftigt war.
»Vielleicht kann Ludwig ihn ja ...«, setzte ich an.
Ich brach den Satz ab. Das war keine gute Idee. Zumindest dann nicht, wenn wir Stefan hier so einfach ohne Absprache mit Frau Fröschl oder der Klinikleitung hereinschmuggeln wollten.
»Naja, sicher gibt's irgend 'ne Busverbindung«, sagte ich stattdessen. »Ich kann ja mal ganz unauffällig an der Rezeption nachfragen.«
»Hey, gut!«
»Vom Ort aus muss er dann eben laufen. Oder wir holen ihn d ab.«
Ich hatte keine Ahnung, wo es in Bad Neuheim überall Bushaltestellen gab. Danach würde ich mich wohl auch erkundigen müssen.
»Kannst du gleich mal gehen? Dann kann ich Stefan nachher noch mal anrufen.«
Eigentlich hatte ich ja gehofft, zuerst einmal noch mehr über das erste Telefonat zu erfahren.
»Ich wart solange hier«, fügte Thomas noch hinzu.
Wenn er mich so drängte, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich ließ ihn also mit meiner Daunenjacke alleine da draußen stehen, gab die Hoffnung endgültig auf, ihn doch noch mit der Kapuze auf dem Kopf sehen zu dürfen, und fuhr hinunter ins Erdgeschoss.
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