Dies ist eine Leseprobe aus dem Roman »Winterregen« von Robin, den du in voller Länge im Story-Bereich auf der Seite www.kapuze-aufsetzen.net lesen kannst.

Als wir zwei Tage zuvor im Ort nach einem Geburtstagsgeschenk für Nadine gesucht hatten, war Kevin in einer Nebenstraße auf dieses merkwürdige Geschäft gestoßen. 'Army-Shop' hatte mit billigen selbstklebenden Buchstaben auf dem Schaufenster gestanden. Ich weiß nicht mehr, wie wir dann auf die Idee gekommen waren, dort hineinzugehen. Dass wir in diesem Laden kein Geschenk für Nadine finden würden, war wohl klar. Auch die Armeeklamotten, unter denen sich der eine oder andere Parka mit Kapuze befunden hatte, waren nicht der Grund gewesen. Solche Dinger hatten mir noch nie besonders gefallen. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass weder Kevin noch ich einen solchen Laden in einem gepflegten Kurort erwartet hatten. Wir konnten uns wohl beide nicht vorstellen, dass dort überhaupt jemand einkaufte. Der Laden hätte mit Sicherheit viel besser in ein heruntergekommenes Großstadtviertel gepasst. Innen sah das Geschäft dann auch eher wie eine Rumpelkammer aus und der Typ hinter dem Tresen machte nicht gerade einen Vertrauen erweckenden Eindruck. Naja, jedenfalls stammte die Tüte von dort. Sie enthielt ein Päckchen mit Lightsticks. Das waren etwa 30 Zentimeter lange, mit einer chemischen Flüssigkeit gefüllte Stäbe, die anfingen zu leuchten, wenn man sie knickte. Aus irgendeinem Grund hatten Kevin diese Dinger so sehr fasziniert, dass wir den Laden mit einem Zehnerpack verlassen hatten, obwohl es die Stäbe auch einzeln gegeben hätte. Wenigstens hatten wir so die Auswahl aus fünf verschiedenen Farben. Nachts hatten wir dann einen dieser Lightsticks ausprobiert, doch Kevin hatte schnell das Interesse daran verloren. Seitdem lagen die restlichen neun unbeachtet in der Plastiktüte herum.

Nun nahm ich sie dort heraus, krabbelte mit ihnen quer durch den Raum zur Zimmertüre hinüber und tastete im Dunkeln nach meinen Schuhen, die ich dort irgendwo vermutete. Naja, sie standen dann doch nicht da, wo ich sie hingestellt zu haben glaubte, aber mein gut entwickelter Tastsinn half mir dabei, mein schlechtes Erinnerungsvermögen zu kompensieren. Als ich sie endlich zwischen den Fingern hatte, schlüpfte ich hinein und band die Schnürsenkel zu, was zu meiner Überraschung gar nicht so einfach war, wenn man nichts sah. Dann griff ich an der Garderobe wahllos nach einer Jacke, erwischte mehr oder weniger unabsichtlich Kevins Snowboardanorak und streifte ihn über. Anschließend ging es zurück zur anderen Seite des Raumes, wo ich den Vorhang aufzog und die Tür zum Balkon öffnete. Nacheinander brachte ich die Lightsticks nun zum Leuchten. Ich klemmte sie wahllos und ohne auf die Farben zu achten in unregelmäßigen Abständen zwischen die Metallstäbe des Balkongeländers. Sie mussten von unten eben gut zu sehen sein. Nur das war wichtig. So würden sie sicher jedem auffallen, der auch nur einen kurzen Blick herauf warf. Ich erwartete allerdings nicht, dass sich um diese Tageszeit auch nur eine einzige Menschenseele dort draußen herumtrieb. Somit würde ich wohl der einzige sein, der überhaupt etwas von dieser Aktion bemerkte.

Als ich schließlich fertig war, schloss ich die Balkontür wieder und verließ das Zimmer. Unbemerkt gelangte ich über das Treppenhaus am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln hinunter in den Keller und von dort durch den Gang zum Ausgang an der Rückseite der Klinik. Natürlich hätte ich es einfacher haben und das Gebäude durch den Haupteingang verlassen können. Dann wäre ich sofort auf der richtigen Seite des Bauwerks gelandet. Da ich aber unterwegs niemandem begegnen wollte, zog ich den längeren Weg vor. Ich musste mich ja nicht beeilen. Die Stäbe würden mehrere Stunden lang leuchten.

Im Freien angelangt atmete ich erst einmal tief die Nachtluft ein. Hinter mir fiel die Türe mit einem leisen Klacken ins Schloss. Dann war es still. Nur das monotone Surren der Heizungsanlage drang fast unhörbar durch irgendein Lüftungsgitter aus dem Inneren des Gebäudes nach draußen. Ich richtete meinen Blick nach oben und betrachtete eine Weile den sternenklaren Himmel. Hätten mir meine Probleme angesichts der unglaublichen Weite des Universums nicht sofort ganz klein und unbedeutend erscheinen müssen? Warum passierte das nicht? Nicht meine Probleme wurden klein und unbedeutend, ich selbst kam mir klein und unbedeutend vor. Verdammt klein und unbedeutend. Ich durfte mir gar nicht vorstellen, wie weit entfernt schon der naheste dieser Sterne war, um mir nicht völlig einsam und verlassen vorzukommen. Faszinierend fand ich diese Ansammlung von Milliarden kleiner Lichter aber trotzdem irgendwie. Ob es da draußen im All wohl noch anderes Leben gab? Vielleicht umkreiste einen dieser Sterne ja ein Planet, auf dem kleine grüne Männchen herumliefen, die mit ihrem Dasein besser zurande kamen als wir hier unten.

Als ich leicht zu frösteln begann, fädelte ich den Reißverschluss von Kevins Jacke ein und schloss ihn bis hoch übers Kinn. Durch das Fleecefutter auf der Innenseite war die Jacke um den Hals herum schön kuschelig. Die Kapuze wollte ich mir für später aufheben. Wenn ich erst einmal kalte Ohren hatte, würde sie doppelt angenehm sein.

Ich bog nach links auf den schmalen gepflasterten Weg ein, der rund um den gesamten Gebäudekomplex führte. Das Geräusch meiner Schritte auf dem Pflaster durchbrach unangenehm die Stille, so dass ich es bald vorzog, abseits des Weges über die aufgeweichte Erde weiterzugehen. Ludwig würde dadurch im Frühjahr vielleicht an der einen oder anderen Stelle den Rasen neu ansäen müssen. Im Moment kümmerte mich das allerdings herzlich wenig. Außerdem war das nun mal sein Job als Hausmeister.

Als ich die andere Seite der Klinik erreicht hatte, blickte ich sofort über die Schulter hinauf zu unserem Balkon. Unübersehbar strahlte mir von oben die kunterbunte Leuchtreklame entgegen, die im Gegensatz zu den funkelnden Sternen am Himmel ganz allein mein Werk war. Ich war fast ein wenig stolz und beschloss, mir das Ganze auch noch aus einiger Entfernung anzusehen. Also verzog ich mich in den äußersten Winkel des Klinikgeländes. Irgendeine mitfühlende Seele hatte dafür gesorgt, dass ausgerechnet dort eine Bank stand, umgeben von ein paar Bäumen und Sträuchern, die das Licht der Lampen abhielten, die vor dem anderen Gebäudeflügel den Parkplatz beleuchteten. Ich setzte mich und verschmolz auf diese Weise mit den Schatten. Nun hatte ich die gesamte Front der Klinik gut im Blick, während ich selbst mich vollkommen unbeobachtet fühlen konnte. Enttäuscht musste ich feststellen, dass die Leuchtstäbe aus der großen Entfernung weit weniger spektakulär wirkten, als ich mir das vorgestellt hatte. Hinter vielen Fenstern brannte noch Licht, so dass die bunten Farben vor unserem Balkon gar nicht so sehr zur Geltung kamen. Ein Blick auf meine Armbanduhr brachte mich dann auch zu der Erkenntnis, dass es noch nicht einmal Neun war. Kein Wunder, dass noch so viele Patienten wach waren. Der Abend war noch so lang. Wie sollte ich nur all die Zeit totschlagen? Im Moment stand mir jedenfalls nicht der Sinn danach, die angenehme Dunkelheit zwischen den Büschen wieder zu verlassen. Sie passte einfach zu gut zu meiner melancholischen Stimmung. Also blieb ich einfach sitzen. Ich rutschte in die Mitte der Bank, griff über die Schultern nach der Kapuze und zog sie mir über den Kopf. Nachdem ich die Kordel festgezurrt hatte ließ ich noch meine Hände in den Ärmeln der Jacke verschwinden und kniff die Ärmelöffnungen mit den Fingern zu, so dass die kühle Winterluft auch dort nicht eindringen konnte. Dann breitete ich meine Arme über die Rückenlehne der Bank, legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß und es genoss, wie die Kälte der ersten Februarnacht über meine Nasenspitze strich, während meine Ohren und Wangen vom kuscheligen Fleecefutter der Kapuze wohlig warm gehalten wurden. Wahrscheinlich wäre ich sogar noch viel länger dort sitzen geblieben, wenn nicht etwas passiert wäre, womit ich nicht gerechnet hatte. Jemand setzte sich neben mich.

Erschrocken riss ich den Kopf nach oben und öffnete die Augen. Zu meinem Erstaunen war es Kevin, der neben mir saß und mich angrinste. Naja, Daniel wäre mir lieber gewesen, aber der war inzwischen wohl weit weg.

»Oh Mann, hast du mich jetzt erschreckt«, japste ich, während mein Puls sich langsam wieder beruhigte.

Kevin grinste immer noch. Sein Blick streifte über meinen Oberkörper, der in seinem Snowboardanorak steckte.

»Ich hab mir deine Jacke ausgeliehen«, reagierte ich. Meine Stimme klang so gelassen, als ob dies das normalste der Welt wäre. »Ist dir doch recht, oder?«

Normalerweise wäre ich jetzt sicher rot geworden und hätte mir verlegen die Kapuze vom Kopf gestreift. In meiner augenblicklichen Stimmung war es mir aber völlig egal, was Kevin dachte und auch sein Schmunzeln machte mir nicht das Geringste aus.

»Wie hast du mich überhaupt hier gefunden?« wollte ich wissen, bevor er irgendetwas erwidern konnte.

»Naja, ich wollte halt mal nach dir sehen. Du warst nicht im Zimmer, meine Jacke war weg, und dann hab ich das da entdeckt.«

Er deutete in Richtung unseres Balkons, wo es immer noch grün, gelb, blau und rot leuchtete.

»Dann konnte ich mir denken, wo du bist. Okay?«

»Okay, Sherlock Holmes«, erwiderte ich trotzig.

Für eine Weile setzte Schweigen ein.

»Willst du noch länger hier sitzen bleiben?« fragte Kevin schließlich.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Warum nicht? Ich find's schön hier.«

»Kann ich mir vorstellen, so in meiner warmen Jacke«, feixte er.

Ich versetzte ihm einen sanften Stoß in die Rippengegend, womit ich mir einen Knuff gegen meine Schulter einhandelte.

»Also gut«, fuhr er mit gespielter Verärgerung fort. »Dann geh ich eben alleine wieder rein. Mir wird nämlich langsam kalt.«

Erst jetzt nahm ich richtig wahr, dass Kevin nur in seinem Wollpullover neben mir saß. Der war zwar ziemlich dick, aber als Schutz gegen die Kälte taugte er dann doch nicht für längere Zeit.

»Du hättest dir ja meine Daunenjacke nehmen können«, entgegnete ich.

»Hey, ich wollte nur kurz nach dir sehen und nicht hier draußen übernachten.«

Kevin hatte sich schon ein paar Meter von mir entfernt, als ich mich schließlich doch noch aufrappelte.

»Warte, ich komm mit«, rief ich ihm nach.

Er verlangsamte seine Schritte bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann liefen wir gemeinsam zurück in Richtung Haupteingang.


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