Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 11 - Nachwehen

Gunther Hübner stand direkt vor mir. Er blickte mich grimmig an. Dann ballte er seine rechte Hand zur Faust und holte aus. Ich konnte mich nicht bewegen und stand wie angewurzelt vor ihm. Seine Faust schnellte nach vorn. Irgendwie schaffte ich es, mit dem Kopf auszuweichen. Meine Füße schienen im Boden einbetoniert zu sein. Die Faust verfehlte mich nur um Haaresbreite. Von irgendwoher hörte ich ein Klopfen.

»David?« rief jemand leise. »David?«

Das hörte sich fast so an wie die Stimme von Thomas. Nur irgendwie gedämpft, wie aus weiter Ferne. Noch einmal klopfte es. Hatte Gunther Hübner seinen Sohn wieder irgendwo eingesperrt?

Irgendetwas rüttelte an meiner Schulter.

»David!« sagte eine Stimme direkt neben mir.

Was war jetzt los? War das nicht die Stimme von Kevin?

»David, wach auf!«

Ich öffnete die Augen. Es war dunkel. Wieder klopfte es.

»David? Kevin?«, hörte ich Thomas leise rufen. Das klang immer noch merkwürdig dumpf.

»Bist du wach?« wollte Kevins Stimme neben meinem Ohr wissen.

»Ja, was'n los?« antwortete ich schlaftrunken.

»Thomas ist draußen vor der Tür! Machst du auf oder soll ich gehen?«

»Ich geh schon.«

Ich stand auf und rieb mir die Augen. Als nächstes schaltete ich das Licht ein. Mann, das blendete! Ich blickte noch schnell auf meinen Wecker. 1:47 Uhr. Dann tappte ich zur Zimmertüre und sperrte leise auf. Es war natürlich völlig unnötig, die Türe so sachte aufzuschließen. Wenn die Bewohner der Nachbarzimmer noch nicht durch Thomas' Klopfen und Rufen geweckt worden waren, dann würde sie wohl kaum das Geräusch einer sich öffnenden Zimmertüre stören.

Thomas schlich draußen im Flur nervös auf und ab, nur mit einem hautengen schwarzen T-Shirt und Shorts bekleidet. Wenn ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass er das war, hätte ich ihn im ersten Moment gar nicht erkannt. Aber das lag wohl vor allem an der spärlichen Notbeleuchtung im Gang.

Als er endlich bemerkte, dass ich inzwischen die Türe geöffnet hatte, sah er mich mit seinem Dackelblick an, der mir inzwischen schon mehrmals an ihm aufgefallen war. Eigentlich fand ich ihn so ja ganz süß. Wenn er nur nicht gleichzeitig so einen mitleiderregenden Eindruck gemacht hätte!

»Hey, Thomas, was ist los?« wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich kann einfach nicht schlafen«, sagte er leise.

»Komm erst mal rein, okay?«

»Danke.«

Ich schloss die Türe hinter ihm und führte ihn ins Zimmer.

»Sorry, aber ich halt's so allein in meinem Zimmer heut einfach nicht aus«, entschuldigte er sich.

Dann entdeckte er die beiden Matratzen, die auf dem Zimmerboden nebeneinander lagen, und riss den Mund groß auf.

»Ich dachte, ihr ...«, stammelte er.

Kevin hatte sich aufgesetzt und grinste ihm entgegen.

»Was du schon wieder denkst ...«, entgegnete er kopfschüttelnd.

»Willst du die Nacht über bei uns bleiben?« fragte ich schnell, damit erst gar keine längeren Diskussionen um die Matratzenanordnung aufkommen konnten.

Thomas nickte.

»Wenn ihr nichts dagegen habt?«

»Ach wo! Klar kannst du hier bleiben«, antwortete Kevin sofort. »Du darfst dich nur nicht dran stören, dass ich ab und zu mal schreiend aufwache, wenn ich gerade wieder 'nen Albtraum hatte.«

»Oh!« erwiderte Thomas hilflos. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht wusste, wie er auf Kevins Aussage reagieren sollte.

»Naja, inzwischen hab ich die ja nicht mehr so oft«, sagte Kevin dann auch sofort und fügte mit einem breiten Grinsen noch hinzu: »Außerdem liegt David ja gleich neben mir und kann mich dann immer trösten.«

Diese Bemerkung war mal wieder typisch für Kevin. Irgendwie neigte er dazu, ernste Situationen ins Lächerliche zu ziehen, seitdem es ihm besser ging. Immerhin schaffte er es damit, die angespannte Situation etwas aufzulockern.

Thomas schien derweil nicht so recht zu wissen, ob Kevins letzter Satz auch wirklich ernst gemeint war.

»Liegt ihr deswegen so nebeneinander?« fragte er deshalb.

»Mmh«, antwortete ich etwas verlegen. Ich war mir eigentlich schon längst nicht mehr sicher, ob Kevin hier mit mir auf dem Boden schlief, weil er ab und zu immer noch meinen Trost brauchte, oder ob er das inzwischen nur noch mir zuliebe tat, weil er genau wusste, dass ich es mochte, ihm so nahe zu sein. Vielleicht sollten wir das in Zukunft deshalb lieber wieder sein lassen. Ich beschloss, die nächste Nacht wieder in meinem richtigen Bett zu verbringen. Wahrscheinlich wartete Kevin nur darauf, dass ich das tat.

Seine Stimme unterbrach abrupt meine Gedanken.

»Gehst du noch deine Bettdecke und dein Kopfkissen holen, oder willst du zu David unter die Decke?« fragte er Thomas.

Auch bei diesem Satz hatte Kevin wieder ein breites Grinsen im Gesicht, doch diesmal wäre ich ihm dafür am liebsten an die Gurgel gesprungen.

Was sollte das jetzt wieder? Wollte er mich mit Thomas verkuppeln? Oder war das wieder nur einer seiner Scherze, die er ab und zu machte, ohne vorher großartig darüber nachzudenken?

»Ähm, ja, ich geh schnell«, stammelte Thomas sofort und war in Windeseile durch die Tür verschwunden.

»Musste das jetzt sein?« fragte ich Kevin ärgerlich, nachdem wir wieder unter uns waren.

»Also ich fand's witzig!«

»Ich nicht! Musst du ständig solche Bemerkungen machen?«

Dann war Thomas mit seinem Kopfkissen unter dem Arm auch schon wieder zurück. Ein Ende der Bettdecke hatte er über der Schulter, das andere Ende schleifte hinter ihm über den Boden. Irgendwie erinnerte er mich so an Linus von den Peanuts, der immer seine Schmusedecke hinter sich her zog. Es schien Thomas auch nicht weiter zu stören, dass er so den ganzen Dreck vom Boden aufsammelte. Naja, hier wurde ohnehin jeden Tag vom Reinigungspersonal gründlich gesaugt. Allzu viel Schmutz konnte also gar nicht herumliegen.

Während Thomas sein Bettzeug auf die Matratzen warf, schloss ich noch schnell die Zimmertüre ab.

»Willst du in die Mitte?« hörte ich Kevin fragen.

Als ich zurück ins Zimmer kam, sah mich Thomas unschlüssig an. Ich zuckte mit den Schultern.

»Ja, du kannst ruhig zwischen uns beide.«

So musste ich wenigstens nicht dicht neben Kevin liegen. Irgendwie wäre mir das jetzt unangenehm gewesen, wo ich mich doch gerade dazu durchgerungen hatte, in Zukunft nicht mehr neben ihm auf dem Boden zu schlafen.

»Oh Mann, ich glaub allein in meinem Zimmer wär ich noch durchgedreht. Ich hatte die ganze Zeit über Angst, dass mein Vater durch die Tür kommt.«

Thomas' Bemerkung erinnerte mich an meinen Traum von vorhin.

»Hey, das kann ich verstehen. Ich hab vorhin von ihm geträumt. Der wollte mir grade eine reinhauen, als du geklopft hast. Gut, dass ich da aufgewacht bin! Wer weiß, wie der Traum sonst weitergegangen wäre?«

Thomas' Vater hatte bei mir wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Solche Begegnungen wie heute wünschte ich mir wirklich nicht alle Tage!

Thomas hatte sich bereits neben Kevin gelegt und sich zugedeckt. Es schien ihm immer noch etwas unangenehm zu sein, dass er mitten in der Nacht einfach hereingeplatzt war, denn er sah mich wieder mit seinem Dackelblick an.

Bevor ich das Licht ausschaltete, lächelte ich ihm deswegen noch einmal zu. Dann legte ich mich neben ihn und schlüpfte unter meine Bettdecke.

Da lag ich also nun, nur ein paar Zentimeter entfernt von einem anderen schwulen Jungen, gemeinsam in einem Bett. Naja, sofern man diese zwei Matratzen überhaupt als Bett bezeichnen konnte. Aber das war nun wirklich nicht das Entscheidende. Viel wichtiger war die Frage, was nun passieren würde. Würden wir einfach so einschlafen oder würde sich in dieser Nacht auch noch etwas anderes zwischen uns beiden abspielen? Irgendwas im sexuellen Bereich? Immerhin hatte Thomas da schon wesentlich mehr Erfahrung als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Mit Stefan hatte er sicher schon so einiges ausprobiert. Aber das war jetzt bereits einige Wochen her. Vielleicht fehlte ihm das ja inzwischen? War er vielleicht deswegen zu uns ins Zimmer gekommen?

Was machte ich mir da nur für Gedanken? Thomas war einfach nur verängstigt und wollte die Nacht nicht alleine in seinem Zimmer verbringen. Das war alles. Außerdem lag da ja auch noch Kevin neben uns. Wir würden also wirklich nur nebeneinander nächtigen.

Im Moment war Thomas allerdings noch viel zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Deshalb unterhielten wir uns noch eine Zeitlang im Dunkeln. Zuerst redeten wir wieder über die Ereignisse vom Nachmittag. Dann schilderte uns Thomas noch einmal in allen Einzelheiten den Vorfall vor dem Personalwohnheim, wo sein Vater ihm und Stefan vor einigen Wochen aufgelauert hatte. Es schien ihm gut zu tun, mit uns noch mal darüber sprechen zu können.

»Und du hattest mit Stefan seitdem echt keinen Kontakt mehr?« wollte ich irgendwann wissen.

»Nein«, antwortete Thomas kleinlaut.

»Warum bist du nie zu ihm hin? Ich meine, in der Zeit, als du bei deiner Oma gewohnt hast.«

»Mann, ich bin in der Zeit kaum aus dem Haus! Denkst du, ich wollte irgendwo meinem Vater über den Weg laufen?«

Dieser Mistkerl hatte der Psyche seines Sohnes offensichtlich mehr Schaden zugefügt, als ich bisher gedacht hatte. Thomas schien wahnsinnige Angst vor ihm zu haben. Kein Wunder, dass er an diesem Nachmittag nach den Ereignissen auf dem Parkplatz kaum zu beruhigen gewesen war.

»Und warum hast du nie versucht, Stefan anzurufen?«

»Naja, in seinem Zimmer im Wohnheim hat er kein Telefon.«

»Hey, du hättest ihn sicher irgendwie erreichen können. Während der Arbeitszeit auf seiner Station oder so.«

Thomas druckste eine Weile herum.

»Ich hatte halt Angst, dass er einfach auflegt. Dass er nichts mehr von mir wissen will. Oder sagt, dass er mich jetzt hasst oder so.«

»Warum sollte er dich denn hassen?«

»Naja, nach dem, was mein Vater da veranstaltet hat ...«

»Das war doch nicht deine Schuld! Und wenn Stefan dich wirklich geliebt hat, dann hasst er dich nicht von einem Moment auf den anderen.«

Als Thomas daraufhin nichts sagte, fragte ich: »Ihr wart doch richtig ineinander verliebt, oder?«

»Ja«, erwiderte Thomas nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme.

»Oh Mann, du vermisst ihn ganz schön, oder?«

Thomas brachte kein Wort mehr heraus und schluchzte unkontrolliert. Mussten sich hier denn ständig solche Dramen abspielen?

Als ich im Dunkeln meinen Arm um ihn legen wollte, war da schon Kevins Hand. Im Trösten hatten wir inzwischen wohl beide Übung.

»Hey, du solltest Stefan einfach mal anrufen. Wer weiß, was der sich für Sorgen um dich macht?«

»Meinst du?« fragte Thomas, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ja, stell dir nur mal vor! Der hat seit Wochen nichts mehr von dir gehört und hat keine Ahnung, wie's dir so geht. Er konnte dich ja die ganze Zeit über nicht erreichen. Er wusste ja nicht mal, wo du überhaupt bist. Zumindest, wenn er nicht mitbekommen hat, dass du im Krankenhaus warst. Dass du dann 'ne Weile bei deiner Oma rumgehockt bist, konnte er ja schließlich nicht ahnen, oder? Von der Klinik hier weiß er auch nichts. Und dass er sich nicht traut, bei deinen Eltern anzurufen und dort nach dir zu fragen, ist ja wohl klar nach dem Vorfall vor dem Wohnheim.«

»Und wenn er doch nichts mehr von mir will? Vielleicht hat er ja schon 'nen Neuen?«

Ich schien Thomas noch nicht ganz überzeugt zu haben.

»Hey, das glaub ich nicht! Naja, und wenn, dann musst du damit eben irgendwie klarkommen. Aber dann hast du wenigstens Gewissheit.«

»David ist ja da, der kann dich dann trösten«, schaltete sich Kevin ein. »Der kann das nämlich ganz gut!«

»Kevin! Lass die dummen Bemerkungen!«

»Okay, okay! Du kannst dich dann bei uns beiden ausheulen, wenn's dir danach ist.«

Manchmal hätte Kevin ruhig etwas mehr Taktgefühl haben können. Aber bei Thomas schienen seine Worte die richtige Wirkung zu haben.

»Hey, ich hatte noch nie solche Freunde wie euch! Wir sind doch Freunde, oder?«

»Na klar!«

»Ja, sind wir!«

Nachdem wir das geklärt hatten, konnten wir dann doch alle einschlafen.

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