Kapitel 13 - Das Wiedersehen Die nächsten 24 Stunden mussten für Thomas dann wie eine halbe Ewigkeit erschienen sein. Sein Zigarettenkonsum war jedenfalls dramatisch angestiegen. Die ganze Zeit über war er gespannt vor Erwartung auf das Wiedersehen mit Stefan und auch während der Gruppentherapie am Freitagnachmittag rutschte er ständig nervös auf seinem Stuhl hin und her. Als uns Frau Fröschl dann endlich ins Wochenende entließ, wäre er am liebsten sofort in den Ort zur Bushaltestelle gelaufen. Dann hätten wir dort allerdings wirklich eine halbe Ewigkeit auf die Ankunft des Busses warten müssen. So machten wir uns dann doch erst kurz nach Fünf auf den Weg. Kevin und ich begleiteten ihn. Die Mädchen hatten derweil den Auftrag, uns beim Abendessen einen großen Stapel Brote zu schmieren. Schließlich würden wir nicht vor halb sieben mit Stefan in der Klinik zurück sein. Außerdem konnten wir unseren heimlichen Gast schlecht mit in den Speisesaal nehmen. Ihn in den nächsten Tagen mit Essen zu versorgen, würde wohl ohnehin nicht ganz problemlos werden. Es dämmerte bereits, als wir losliefen. Das Wetter war an diesem Tag schon wieder besser und wir wurden unterwegs nicht von Regen oder Schnee durchnässt. Natürlich hätte ich gegen etwas Schmuddelwetter nichts einzuwenden gehabt. Ich hatte mir an diesem Tag sogar extra wieder einen Kapuzenpulli angezogen in der Hoffnung, dass es regnen oder schneien würde, wenn wir Stefan abholten. Der Wettergott schien mir diesen Gefallen allerdings nicht zu tun. Die Sweatshirtkapuze konnte ich aber auch so als Schutz gegen die Kälte aufsetzen. Dagegen blieb die dünne Kapuze meiner Daunenjacke eben diesmal im Kragen verpackt. Kevin und Thomas schienen es derweil vorzuziehen, kalte Ohren zu bekommen. Naja, besonders frostig war es eigentlich auch nicht. »Ich kann's noch gar nicht glauben, dass Stefan gleich hier sein wird«, sagte Thomas, als wir nach einer guten halben Stunde Fußmarsch die Bushaltestelle erreicht hatten. »Wie lange hast du ihn jetzt nicht gesehen?« »Fünf Wochen oder so«, antwortete er schulterzuckend. »Naja, noch ein paar Minuten, dann hast du ihn wieder.« Inzwischen war es richtig dunkel geworden. Der gepflasterte Ortsplatz bildete einen großen Halbkreis, der von nostalgisch anmutenden Lampen in ein angenehmes Licht getaucht wurde. An der geraden Seite des Platzes führte die Hauptstraße vorbei. Hier befand sich auch das Buswartehäuschen. Um den Halbkreis herum lagen neben dem Rathaus und einem griechischen Restaurant auch ein paar Geschäfte. Jetzt am Freitagabend konnte man gut die letzten Kunden in den erleuchteten Läden beim Einkaufen beobachten. Ich sah auf meine Uhr. Wir waren immer noch über eine Viertelstunde zu früh. Damit Thomas nicht ständig unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und uns mit seiner Nervosität noch ansteckte, schlenderten wir lieber noch etwas über den Platz. Wir inspizierten den Brunnen in der Mitte, der um diese Jahreszeit natürlich nicht in Betrieb war, und beobachteten die Passanten. Ich hielt Ausschau nach hübschen Jungs in mit Kapuzen ausgestatteten Winterjacken, aber das Schicksal meinte es auch in dieser Hinsicht nicht gut mit mir. Wurden Kurorte eigentlich grundsätzlich nur von Leuten über 50 bevölkert? Fünf Minuten vor der planmäßigen Ankunftszeit setzten wir uns dann auf die Bank des Wartehäuschens. Thomas sah inzwischen alle paar Sekunden auf die Uhr. Immer wieder sprang er auf, um auf der Straße Ausschau nach dem Bus zu halten. »Hey, das isser, oder?« rief er uns irgendwann zu. Hinter den näher kommenden Autos waren jetzt auch die Scheinwerfer eines größeren Fahrzeugs aufgetaucht. Durch die beleuchtete Fahrziel-Anzeige hinter der Windschutzscheibe konnte man es bald eindeutig als Linienbus identifizieren. Es war einer dieser überlangen Dreiachser, bei denen ich mich immer fragte, wie die überhaupt um die Kurven kamen. Der Fahrer setzte den Blinker und bog langsam in die Haltebucht ein. Nun sprangen auch Kevin und ich auf. Eigentlich hatten wir ja geplant, uns erst einmal im Hintergrund zu halten, damit sich Thomas und Stefan in Ruhe begrüßen konnten, aber nun hielt uns auch nichts mehr auf unseren Sitzen. Ich streifte mir die Kapuze vom Kopf. Schließlich wollte ich Stefan zur Begrüßung nicht so vermummt gegenübertreten. Noch bevor der Omnibus zum Stillstand gekommen war, blickte Thomas auch schon durch die Seitenscheiben in das Fahrzeug hinein. Da die Innenbeleuchtung bereits eingeschaltet war, konnte man gut die Gesichter der Fahrgäste erkennen. Einige standen bereits im Mittelgang und machten sich zum Ausstieg bereit. Schließlich öffnete der Fahrer die beiden Türen und die ersten Passagiere strömten die Stufen herab ins Freie. »Scheiße! Ich glaub, er ist nicht dabei!« schrie Thomas plötzlich auf, nachdem ein halbes Dutzend Fahrgäste aus dem Bus gekommen waren und kaum noch weitere zu den Türen drängten. »Bist du sicher?« fragte ich zurück. »Ja, verdammt!« Inzwischen kamen schon die beiden letzten ausstiegswilligen Passagiere durch die breite Mitteltüre heraus. Schnell lief ich nach vorne zum Fahrer. »Warten Sie bitte einen Moment!« rief ich ihm durch die zum Glück noch geöffnete vordere Türe zu. Er sah mich verwundert an. Ich winkte Thomas zu und deutete ihm an, dass er nachsehen solle, ob Stefan vielleicht noch im Bus saß. Sofort stieg er durch die Mitteltür ins Fahrzeug. Während er durch den Gang lief und die noch im Bus sitzenden Passagiere der Reihe nach musterte, fragte ich den Fahrer, ob er einen Jungen in unserem Alter bemerkt hatte, der vielleicht schon an einer der anderen Haltestellen ausgestiegen war. »Weißt du eigentlich, wie viel junge Leute hier mitfahren?«, bekam ich etwas schroff als Antwort. »Und an jeder Haltestelle steigen ein paar davon aus.« Naja, auf dumme Fragen bekam man eben manchmal auch dumme Antworten. Wie sollte der Fahrer mir auch weiterhelfen können, wenn ich nicht einmal wusste, wie Stefan überhaupt aussah? Thomas war inzwischen durch den Mittelgang nach vorne gekommen. Er schüttelte enttäuscht den Kopf, als ich ihn fragend anblickte. Ich dankte noch kurz dem Busfahrer, der schon ungeduldig darauf wartete, dass wir endlich wieder verschwanden. Dann verließen wir das Fahrzeug wieder. Der Fahrer schloss die Türen und der Bus setzte sich hinter uns in Bewegung. Nun standen wir wieder alleine vor dem gläsernen Wartehäuschen. »Verdammte Scheiße!« entfuhr es Thomas. Er wirkte richtig verzweifelt. »Er wollte doch kommen! Warum ist er jetzt nicht da?« jammerte er. Kevin und ich sahen ihn hilflos an. »Vielleicht ist er ja wirklich nur an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, versuchte ich ihn schließlich zu beruhigen. »Ach wo! Du hast ihm doch ganz genau beschrieben, wo er aussteigen muss.« Das stimmte. Der Ortsplatz war aber trotzdem bereits die zweite Haltestelle in Bad Neuheim, die der Bus angefahren hatte. Vorher hatte er schon an der Kirche angehalten. Wenn man von unserer jetzigen Position aus die Straße entlang sah, konnte man hinter den Dächern der Häuser gerade noch die beleuchtete Kirchturmuhr erkennen. Die Distanz war aber zu groß, um auch noch die Uhrzeit ablesen zu können. Ein halber Kilometer lag wohl schon dazwischen. »Und wenn er doch an der Kirche ausgestiegen ist?« schaltete sich Kevin ein. »Wir müssen auf jeden Fall mal nachsehen gehen.« »Hey, Kevin hat Recht. Vielleicht steht er ja dort jetzt ganz verzweifelt herum und wundert sich, warum wir nicht da sind.« Thomas schien die Hoffnung aber bereits aufgegeben zu haben. Nur widerwillig folgte er uns, als wir die Hauptstraße entlang in Richtung Kirche liefen. Damit Stefan auf keinen Fall unbemerkt an uns vorbeilaufen konnte, beäugten Kevin und ich alle Passanten auf beiden Gehsteigen. Das war keine besonders schwierige Aufgabe, da in dem verschlafenen Örtchen um diese Uhrzeit kaum noch etwas los war. Thomas trottete derweil missmutig mit gesenktem Kopf hinter uns her. »Hey, Thomas!« rief Kevin plötzlich. »Isses vielleicht der da vorne?« Er deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sechs oder sieben Häuser weiter näherte sich uns dort ein Junge, der eine große Tasche geschultert hatte. Thomas blickte auf. Im nächsten Moment rannte er auch schon los. »Stefan! Stefan!« schrie er und fuchtelte dabei wild mit den Armen in der Luft herum, um seinen Freund auf sich aufmerksam zu machen. Zwei vorbeifahrende LKWs, die einerseits einen Heidenlärm machten und andererseits auch noch die Sicht auf die andere Straßenseite versperrten, ließen mich im ersten Moment daran zweifeln, ob diese Aktion besonders sinnvoll war. Stefan schien uns aber bereits von selbst entdeckt zu haben. Dann standen sich die beiden gegenüber. Stefan auf der rechten, Thomas auf der linken Straßenseite. Thomas nutzte dann auch die nächste Lücke im Verkehr und rannte zu Stefan hinüber, der inzwischen seine Tasche abgestellt hatte. Es folgten eine lange Umarmung und ein inniger Kuss. Kevin und ich waren unterdessen stehen geblieben und beobachteten die beiden aus einiger Entfernung, wie sie ihr Wiedersehen genossen. Es dauerte wohl ein paar Minuten, bis sich die beiden wieder voneinander lösten. Dann mussten sie sich erst einmal ein paar Tränen aus den Augen wischen. Schließlich griff Stefan wieder nach seiner Tasche und kam mit Thomas zu uns herüber. Kevin und ich begrüßten den Neuankömmling. »Hallo, ich bin David. Wir haben schon mal am Telefon miteinander gesprochen«, sagte ich, als ich Stefan die Hand schüttelte. »Hallo, schön dich jetzt auch richtig kennen zu lernen.« »Und das da ist Kevin.« Jetzt war Kevin mit dem Händeschütteln an der Reihe. »Hey, jetzt bin ich doch tatsächlich an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, meinte Stefan, nachdem wir die Begrüßungszeremonie hinter uns gebracht hatten. »Naja, wir haben dich ja trotzdem noch gefunden.« »Ich hab noch extra den Mann gefragt, der neben mir im Bus gesessen ist. Ich dachte halt, der kennt sich hier aus. Und der hat gemeint, dass der Platz vor der Kirche der Ortsplatz ist. Naja, ein Platz war da ja auch, nur eben kein halbrunder, wie du extra noch gesagt hast. Aber bevor ich hier in dem Ort überhaupt nicht mehr aus dem Bus rauskomme, bin ich halt sicherheitshalber dort ausgestiegen.« »Thomas hatte schon Angst, dass du überhaupt nicht kommst.« »Und ich hatte Angst, dass ihr vielleicht schon wieder zurück zu dieser Klinik gelaufen seid. Aber ich hätte mich schon durchgefragt.« Erst jetzt kam ich dazu, Stefan genauer zu betrachten. Er war ziemlich schlank, etwa so groß wie Thomas und sah mit seinem dunkelblonden Wuschelkopf eigentlich ganz gut aus, auch wenn er nicht unbedingt das Zeug zum Model hatte. Er trug eine Brille, die gut zu seinem Typ passte, und hatte in einem Ohr einen relativ unauffälligen Ohrstecker. Sein Oberkörper steckte in einem dicken schwarzen Lederblouson mit Fellkragen. Stefan schien also auch einer der Menschen zu sein, die ganz gut ohne Kapuzen auskamen. Konnte ich gar nicht verstehen. Obwohl er mir ganz gut gefiel, fand ich ihn auch wieder nicht so umwerfend, dass Thomas sich jetzt Sorgen machen musste, dass ich ihm seinen Freund ausspannen würde. Nicht, dass ich an so etwas auch nur im Traum gedacht hätte. Wir machten uns auf den Rückweg. Unterwegs erfuhren Kevin und ich dann endlich, was Stefan in den letzten Wochen alles durchgemacht hatte. Thomas war in dieser Hinsicht bisher recht schweigsam gewesen und hatte uns nur wenig von dem erzählt, was er von Stefan am Telefon erfahren hatte. Bisher hatten wir uns deswegen noch vieles selbst zusammenreimen müssen. Jetzt beseitigte Stefan die noch vorhandenen Unklarheiten. In den Tagen nach dem Vorfall vor dem Wohnheim hatte Stefan tatsächlich jeden Vormittag vor der Realschule auf Thomas gewartet und dazu extra mit dieser Lernschwester Melanie die Schicht getauscht. Vor dem Unterricht, während der Pause, immer war er dort gewesen, meistens gut versteckt, damit er nicht aus Versehen Thomas' Vater in die Arme laufen konnte. Er hatte schließlich nicht ausschließen können, dass der jetzt seinen Sohn höchstpersönlich zur Schule brachte und wieder abholte. Thomas war aber nie aufgetaucht. Seine Mitschüler hatten auch nichts von ihm gehört. Um 13 Uhr hatte Stefan dann immer im Krankenhaus seine Schicht antreten müssen. Nie hatte er etwas davon mitbekommen, dass Thomas während dieser Zeit nur ein paar Meter weiter in einem anderen Stockwerk auf einer anderen Station in einem der Krankenzimmer gelegen hatte. Stattdessen hatte er sich die ganze Zeit über kaum auf seine Arbeit konzentrieren können und wäre am liebsten den ganzen Tag über durch die Stadt gestreift, um dort nach Thomas zu suchen. Fast jede Nacht hatte er sich in seinem Wohnheimzimmer in den Schlaf geweint und darauf gehofft, dass Thomas inzwischen wieder von zu Hause ausgerissen war und im nächsten Moment an der Tür klingeln würde. Jeden Tag hatte er daran gedacht, bei Thomas zu Hause anzurufen. Ein paar Mal hatte er das sogar gemacht. Da Thomas nie selbst am Telefon war, hatte er immer sofort wieder aufgelegt. Wie hätte er auch nach Thomas fragen sollen? Schließlich wollte er nicht, dass Thomas wegen seines Anrufs noch mehr Ärger bekam. Nach anderthalb Wochen war Stefan dann krank geworden. Irgendeine Magen-Darm-Geschichte. Ob ihm die nervliche Belastung so zugesetzt hatte oder ob er sich irgendeinen Virus eingefangen hatte, konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall hatte er sich krankschreiben lassen und war mit dem Bus nach Hause zu seinen Eltern gefahren, die 30 Kilometer entfernt in einem kleinen Ort mit ein paar Hundert Einwohnern lebten. Dort hatte die Familie tatsächlich einen Bauernhof, allerdings nur einen relativ kleinen Nebenerwerbsbetrieb. Stefans Vater arbeitete eigentlich in einer Fabrik. Seine Mutter hatte bald bemerkt, dass Stefan nicht nur unter einer Darmgrippe litt, sondern dass auch etwas anderes mit ihm nicht stimmte. Nach ein paar Tagen hatte er sich ihr dann anvertraut. Er hatte ihr offenbart, dass er schwul war und dann die ganze Geschichte mit Thomas erzählt. Der Druck, der auf ihm lastete, war zu diesem Zeitpunkt einfach zu groß geworden. Er hatte das alles einfach nicht mehr für sich behalten können. Zu Stefans Erleichterung hatte seine Mutter recht positiv reagiert. Sie war wohl einfach erleichtert gewesen, endlich zu erfahren, worunter ihr Sohn so litt. Bei Stefans Vater war das schon komplizierter gewesen. Der war ziemlich konservativ und Stefan hätte sich niemals getraut, ihm selbst zu erzählen, dass er schwul war. Diese Aufgabe hatte dann seine Mutter übernommen. Sie hatte es ihm wohl auch ziemlich schonend beibringen müssen, damit er nicht unüberlegt darauf reagierte. Stefan hatte jedenfalls keinen Ärger mit seinem Vater bekommen. Allerdings schien dieser es vorzuziehen, das Thema totzuschweigen und seinem schwulen Sohn so weit es möglich war aus dem Weg zu gehen. Stefan hoffte aber, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden bald wieder verbessern würde. Als es Stefan nach knapp zwei Wochen körperlich wieder so gut gegangen war, dass ihn der Arzt unmöglich noch länger krankschreiben konnte, hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er noch zwei Wochen Urlaub bekam. Während all der Wochen hatte sie ihn häufig in die Stadt gefahren, damit er weiter nach Thomas suchen konnte. Die Suche war natürlich erfolglos geblieben. Zu dieser Zeit war Thomas ja auch bei seiner Oma oder bereits bei uns in der Klinik gewesen. Irgendwann hatte Stefan die Suche dann fast ganz aufgegeben. Diese Woche war er nur noch ein einziges Mal in der Stadt gewesen. Dann war der Anruf gekommen. »Hey, ihr könnt euch echt nicht vorstellen, wie erleichtert ich war!« beendete Stefan seinen Bericht. »Ich hab mich immer gefragt, warum er nicht mehr in die Schule kommt. Ich hab mir die schlimmsten Dinge vorgestellt, die sein Vater mit ihm angestellt haben könnte. Man kommt da echt auf verrückte Ideen. Manchmal hab ich mich sogar gefragt, ob er überhaupt noch lebt!« Thomas sah ihn mit seinem Dackelblick an, als er den letzten Satz ausgesprochen hatte. »Hey, jetzt hab ich dich ja wieder!« reagierte Stefan sofort. Die beiden blieben stehen, umarmten sich und gaben sich einen Kuss. Eng umschlungen standen sie eine Weile da, direkt neben dem kleinen zugefrorenen See, auf dessen Eis sich die Lichter der Klinik spiegelten, die zwei- oder dreihundert Meter vor uns lag. Als sich die beiden wieder voneinander lösten, erzählte Stefan weiter. »Naja, als Thomas mir dann am Telefon gesagt hat, dass er versucht hat, sich umzubringen, hab ich noch mal 'nen ganz schönen Schreck bekommen. Und dann noch die Sache mit dem Krankenhaus! Mann! Da liegt er nur 'n paar Meter weiter und ich lauf durch die ganze Stadt und such ihn dort.« Stefan schüttelte fassungslos den Kopf. Inzwischen hatten wir den See hinter uns gelassen. Die Klinik lag nun direkt vor uns. Die Gefahr, dass Stefan mit seiner Tasche irgendeinem Mitglied des Klinikpersonals auffiel, war zwar gering. Trotzdem war ich nervös, als wir die Klinik durch den Kellereingang betraten. Glücklicherweise war der Eingangsbereich menschenleer. Der Fahrstuhl war auch schon nach wenigen Sekunden da. Wir fuhren hinauf zu unseren Zimmern. Auch durch den langen Gang kamen wir, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann verschwand Stefan mit Thomas im Zimmer. Wir versorgten die beiden noch mit einem großen Essenstablett, das die Mädchen vorbereitet hatten. Dann ließen wir sie für den Rest des Abends allein. Es war nur zu verständlich, dass Thomas und Stefan erst einmal unter sich sein wollten. Natürlich fragte ich mich, was die beiden im Zimmer so alles anstellten. Hoffentlich waren sie nicht zu laut. Die Wände waren hier nicht besonders dick. Laute Geräusche waren da schon mal bis auf den Gang oder bis ins Nachbarzimmer zu hören. Auch den nächsten Tag verbrachten die beiden zum größten Teil alleine. Gleich nachdem sie in Thomas' Zimmer gefrühstückt hatten, gingen sie in den Ort und kamen erst am späten Nachmittag zurück. Dann setzten wir uns zusammen in den Raum oben auf dem Klinikdach. Nur wir Jungs, damit Stefan sich nicht so vorkam, als säße er auf dem Präsentierteller. Stefan erzählte uns bei dieser Gelegenheit dann noch etwas mehr über sich. Vor einem halben Jahr hatte er die Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen. Ein wichtiger Grund für seine Berufswahl war gewesen, dass er dadurch im Personalwohnheim unterkommen konnte und endlich nicht nur stundenweise aus seinem kleinen Kaff herauskam. Langenbergen war zwar auch nicht gerade eine Großstadt und so etwas wie eine Gruppe für schwule Jugendliche gab es dort ebenfalls nicht, trotzdem hatte er sich von Anfang an die Hoffnung gemacht, in der Stadt irgendwie einen Boyfriend zu finden. In seiner Freizeit war er dann auch häufig stundenlang durch die Stadt gestreift. Dass sich Stefan und Thomas dann irgendwann in einem Kaufhaus kennen gelernt hatten, war wohl ein glücklicher Zufall gewesen. Thomas hatte an einem Nachmittag wie so häufig gelangweilt und in Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten die Musikabteilung durchstöbert. Stefan war dort auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn dann einfach angesprochen, nachdem sich die beiden eine Weile gegenseitig beäugt hatten. Für den nächsten Tag hatten sich die beiden dann wieder verabredet. Sie waren zu Stefan ins Wohnheim gegangen und hatten sich dort dann zum ersten Mal geküsst. Damit war für beide ein Traum in Erfüllung gegangen und Thomas hatte außerdem jemanden gefunden, der ihn den Stress mit seinem Vater zumindest für eine Weile vergessen ließ. Die beiden hatten daraufhin drei schöne Monate verlebt, bis dann der Tag gekommen war, an dem der Stammtischbruder von Thomas' Vater die beiden händchenhaltend in der Stadt gesehen hatte. »Und dann hat Thomas irgendwann Mittags vor meinem Zimmer auf mich gewartet«, beendete Stefan seinen Bericht. »Der hat da schon Stunden gesessen, bis ich endlich von der Frühschicht gekommen bin. Oh Mann, der hat ganz schön schlimm ausgesehen. Sein Vater hat ihn ziemlich zugerichtet.« »Naja, gegen das, was er dann ein paar Tage später mit mir angestellt hat, war das eigentlich noch harmlos«, warf Thomas ein. Dann atmete er tief durch und stand auf. »So, ich brauch jetzt erst mal wieder 'ne Kippe. Kommt wer mit raus?« Stefan sah mich flehentlich an und schüttelte dabei leicht mit dem Kopf. Ich wusste nicht genau, was er mir damit mitteilen wollte. Die Stimmung zwischen ihm und Thomas schien etwas angespannt zu sein, seit sie aus dem Ort zurückgekommen waren. Während Stefan erzählt hatte, war Thomas nur kleinlaut herumgesessen und hatte kaum ein Wort gesagt. »Hey, geh mal alleine«, forderte ich Thomas deshalb auf. »Oder brauchst du jedes Mal Gesellschaft, da draußen in der Kälte?« »Okay, wenn's euch zu kalt ist, dann bleibt ihr halt hier drinnen.« Als Thomas sich dann draußen auf der Terrasse die erste Zigarette anzündete, nickte mir Stefan dankbar zu. »Ich wollte mal mit euch beiden alleine reden«, sagte er leise und blickte dabei durch die Scheiben nach draußen, um sicherzustellen, dass Thomas sich nicht weiter um uns kümmerte, während wir uns unter sechs Augen unterhielten. »Wisst ihr, als Thomas sich endlich bei mir gemeldet hat, da war ich zuerst mal nur froh und erleichtert. Aber inzwischen stell ich mir halt die Frage, warum er nicht schon früher angerufen hat, viel früher. Er hätte doch schon im Krankenhaus einfach nur nach mir fragen brauchen. Und als er dann bei seiner Oma war, da hätte er mich doch auch anrufen können. Sein Vater hätte doch nichts davon mitbekommen, oder? Warum hat er das nicht gemacht? Ich versteh das einfach nicht! Und er will auch nicht mit mir drüber reden. Er sagt immer nur, dass es ihm Leid tut, dass er sich nicht früher gemeldet hat.« Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Kevin zuckte auch nur hilflos mit den Schultern. »Da solltest du vielleicht besser unsere Psychologin fragen«, antwortete ich deshalb nach einigem Zögern. »Mir ist auch nicht ganz klar, was so in ihm vorgeht. Aber wenn du mich fragst, dann hatte er wohl einfach Angst, dass dich die Begegnung mit seinem Vater so geschockt hat, dass du deswegen nichts mehr mit ihm zu tun haben wolltest.« »Aber mir war doch auch schon vorher klar, was für ein Arschloch sein Vater ist. Schließlich hab ich bei Thomas die ganzen Wunden und blauen Flecken versorgt, als er von zu Hause ausgerissen war. Klar, ich hab ziemlich Schiss gehabt, als dieser Typ dann unten vor dem Wohnheim stand. Vielleicht hätte ich da nicht einfach abhauen sollen, aber ich hatte halt eine Scheißangst vor diesem Kerl! Was hätte ich denn sonst machen sollen?« Stefan blickte uns verzweifelt an. »Hey, du hättest gar nichts machen können. Als sein Vater vor ein paar Tagen hier aufgekreuzt ist, waren wir zu sechst und hatten trotzdem total Schiss!« »Ja, das hat Thomas mir erzählt. Ich frag mich trotzdem, ob er's mir vielleicht doch übel genommen hat, dass ich da einfach so verschwunden bin anstatt ihm beizustehen. Kann's sein, dass er sauer auf mich war und sich deswegen nie gemeldet hat?« »Nein, das glaub ich nicht«, antwortete Kevin. »Das hätte er uns bestimmt gesagt.« »Das seh ich auch so«, fügte ich hinzu. »Daran lag's ganz bestimmt nicht. Mach dir bloß keine Vorwürfe. Du bist ganz sicher nicht Schuld dran, dass sich Thomas nicht bei dir gemeldet hat.« »Ihr glaubt echt, er hatte nur Angst, dass ich wegen seinem Vater nichts mehr von ihm wissen will? Aber er weiß doch, dass ich ihn liebe, oder nicht?« »Naja, Thomas hatte halt vorher nie jemanden, der so richtig für ihn da war. Der kennt das eben nicht, dass jemand zu ihm steht, auch wenn's mal Probleme gibt.« »Auf jeden Fall hat er dich verdammt vermisst die ganze Zeit über«, fügte Kevin hinzu. »Jedes Mal, wenn wir auf dich zu sprechen gekommen sind, hat er angefangen zu heulen.« »Echt?« »Ja, du hast ihm total gefehlt in den letzten Wochen. Er braucht dich!« Stefan schien jetzt ziemlich erleichtert zu sein. »Hoffentlich habt ihr Recht! Mir hat das echt zu schaffen gemacht. Ich geh mal zu ihm raus, okay?« Dann stand er auf und ging nach draußen zu Thomas. Wir beobachteten die beiden, wie sie auf der Terrasse ein paar Worte wechselten. Ihre Stimmen drangen zwar nicht durch die Scheiben, aber da beide Tränen in den Augen hatten, schien es irgendetwas sehr emotionales zu sein, was sie besprachen. Die Spannung zwischen den beiden schien dadurch auch zu verfliegen, denn Thomas ließ seine Zigarette fallen und die beiden fielen sich in die Arme. Kevin und ich lächelten uns zu. »Ich glaub, wir lassen die beiden wieder alleine, oder?« schlug ich vor. »Ja, ist wohl besser. Scheint ja wieder alles in Ordnung zu sein zwischen denen.« Wir standen auf und verschwanden im Aufzug. Am nächsten Tag hieß es dann schon vormittags Abschied von Stefan zu nehmen. Die Busverbindung am Sonntag war noch schlechter als unter der Woche. Der einzige Bus in die Stadt fuhr kurz nach Zwölf am Ortsplatz ab. Außerdem hatte Stefan ja noch eine längere Zugfahrt vor sich. Montags wollte er dann auch endlich wieder seinen Dienst im Krankenhaus antreten. Sein Urlaub war nämlich zu Ende. Und jetzt, wo er Thomas wiederhatte, fühlte er sich auch wieder dazu in der Lage zu arbeiten. Thomas brachte seinen Freund alleine zurück zum Bus. Die beiden wollten die letzten Minuten wohl noch zu zweit verbringen. Der Abschied schien ihnen ohnehin ziemlich schwer zu fallen. Als Thomas dann alleine aus dem Ort zurückkam, mussten wir ihn erst einmal etwas aufmuntern. Da Stefan in der nächsten Woche Spätschicht hatte, würde er am nächsten Wochenende nicht kommen können. Die beiden hatten aber vereinbart, dass Thomas stattdessen ihn besuchen sollte. Irgendwie schien Thomas das aber nicht so sehr zu gefallen. Naja, Stefans Mutter wollte ihn kennen lernen und sich dazu am Samstagnachmittag mit den beiden in Langenbergen in einem Café treffen. Darüber war Thomas eben nicht so begeistert. Bei den Erfahrungen mit seinen eigenen Eltern war das auch nur zu verständlich. Außerdem hatte er wohl Angst, in die heimatliche Umgebung zurückzukehren. Schließlich trieb sich da in ein paar Kilometern Entfernung auch sein Vater herum. Und dem wollte er keinesfalls begegnen. Damit Thomas auf andere Gedanken kam, sorgten wir nachmittags und abends für etwas Abwechslung. In der Klinik gab es auch einen Billardtisch und zwei Tischtennisplatten. Wurde langsam Zeit, dass wir die auch mal nutzten. So ging dann auch noch der Rest des Wochenendes vorüber.
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