Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 21 - Morgendämmerung

»Hey, beeil dich mal!« forderte Kevin mich ungeduldig auf, als er mich immer noch im T-Shirt vor dem geöffneten Kleiderschrank herumstehen sah. An den Tagen vorher war es nicht mehr besonders kalt gewesen und der Wetterbericht hatte leichten Regen angekündigt. Daher war ich unschlüssig, ob ich wieder meine warme Daunenjacke und darunter nur ein dünnes Langarmshirt ohne Kapuze oder doch lieber einen etwas dickeren Kapuzenpulli und dazu meine andere Jacke, die nur leicht wattiert war, anziehen sollte. Schließlich entschied ich mich für die zweite Variante und griff nach einem weißen Hoodie. Ich schlüpfte hinein und nahm danach die Jacke vom Bügel. Diese war kurz und schmal geschnitten, im aktuellen Retro-Look aus rotem und dunkelblauem Glanznylon. Wie Kevin bereits einmal bei der Inspektion meines Kleiderschranks festgestellt hatte, war auch bei dieser Jacke die Kapuze im Kragen untergebracht, im Gegensatz zu meiner Daunenjacke aber nicht hinter einem Klettverschluss, sondern in einem Reißverschlussfach. Somit war nun auch ich zum Aufbruch bereit, wenn auch noch ziemlich lustlos.

An diesem Samstagmorgen hatte uns der Wecker bereits um halb sieben aus dem Bett geklingelt. So früh aufzustehen war ich inzwischen gar nicht mehr gewohnt. Daher fühlte ich mich noch nicht wirklich wach. Kevin hingegen war bereits richtig hibbelig. Er stand mittlerweile schon vor der geöffneten Zimmertür und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Es wunderte mich aber nicht wirklich, dass ihn die Tatsache nervös machte, heute nach vielen Wochen wieder nach Hause zurückzukehren und seine Freunde wiederzusehen.

Obwohl die Entfernung zu Kevins Heimatstadt nur knapp 150 Kilometer betrug und wir bereits am nächsten Abend zurück sein würden, hatte ich das Gefühl, zu einer großen Reise aufzubrechen. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich nun beinahe vier Wochen nicht über den näheren Umkreis dieser Klinik hinausgekommen war. Bepackt mit einem kleinen Rucksack, der Wäsche zum Wechseln und ein paar weitere nützliche Utensilien enthielt, trat ich schließlich zu Kevin hinaus in den Flur.

Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch, als ich die Tür hinter uns abschloss. Das Gefühl verstärkte sich noch, als wir mit leisen Schritten durch den Gang eilten. Um diese Zeit war es in der Klinik noch totenstill und die Notbeleuchtung erzeugte eine unheimliche Atmosphäre. Um die Stille nicht zu stören, traute ich mich kaum, auch nur ein einziges Wort mit Kevin zu wechseln, nicht einmal im Flüsterton. Da auch er sich nicht bemüßigt fühlte, irgendetwas zu sagen, liefen wir schweigend in Richtung Fahrstuhl. Am Übergang zwischen den Gebäudeflügeln sah ich kurz durch die Fenster nach draußen. Die Morgendämmerung setzte langsam ein, noch schien aber die Dunkelheit die Oberhand zu behalten.

Als wir schließlich nebeneinander vor dem Aufzug standen und Kevin auf die Taste mit dem nach unten gerichteten Dreieck drückte, schien die merkwürdige Stimmung, die mich seit dem Verlassen unseres Zimmers befallen hatte, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das Surren des Fahrstuhlmotors, das leise Pling, mit dem die Kabine in unserem Stockwerk zum Stillstand kam, und das Rattern der sich öffnenden Türen, Geräusche, die ich sonst kaum wahrnahm, schienen diesmal viel zu laut zu sein. Ich fragte mich, ob das nur mir so vorkam, oder ob Kevin genauso empfand. Jedenfalls sprachen wir weiterhin kein einziges Wort, während wir hinunter in den Keller fuhren. Erst als wir draußen im Freien vor der Klinik standen, schien der Bann ein wenig zu brechen.

»Wie viel Zeit haben wir noch, bis der Bus fährt?« hörte ich Kevin sagen, als wir uns in Bewegung setzten.

Ich schob den Ärmel meiner Jacke zurück und sah auf meine Armbanduhr.

»Genügend«, antwortete ich nur.

Immer noch hatte ich das Gefühl, dass jedes unserer Worte bis hinauf hinter die Fenster der Klinik zu hören war und ebenso wie das Knirschen unserer Schuhsohlen auf dem Kiesweg die Stille unangemessen störte. Zögerlich ließ ich meinen Blick über die Umgebung wandern. Dichter Nebel verhüllte die Landschaft um uns herum, so dass die Sicht auf zwanzig oder dreißig Meter beschränkt war. Die Wiesen waren über und über mit Reif bedeckt. Als das Klinikgebäude hinter uns im Nebel verschwunden war und plötzlich einige kahle Bäume schemenhaft vor uns auftauchten, wäre ich vor Schreck beinahe zusammengezuckt. Hastig zog ich mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf. Nicht wegen der Kälte, sondern um mich vor dieser unheimlichen Atmosphäre abzuschirmen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht über irgendetwas zu stolpern, die Sicht nach rechts und links durch die Kapuze eingeschränkt, trottete ich still neben Kevin her. Als ich nach einer Weile den Blick in seine Richtung wandte, bemerkte ich, dass auch er die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen hatte. Ich fragte mich, ob ihm diese genau wie mir ein Gefühl von Schutz und Sicherheit vermittelte, oder ob ihm einfach nur kalt war. Mit gesenktem Kopf setzte er einen Schritt vor den anderen, die Hände tief in den Jackentaschen. Sein Atem kondensierte zu kleinen Wölkchen. Er bemerkte überhaupt nicht, dass ich ihn ansah.

Ich fragte mich, worüber er gerade nachdachte und wie er sich wohl fühlte. Am vergangenen Nachmittag hatte er noch einmal lange mit Enrico telefoniert. Er hatte zwar kaum darüber geredet, was er alles mit ihm besprochen hatte, aber ich hatte ihm danach deutlich anmerken können, dass er sich auf das Wiedersehen richtig freute. Inzwischen schien diese Vorfreude aber in so etwas wie Unsicherheit oder Anspannung umgeschlagen zu sein. Jedenfalls schien er es im Moment vorzuziehen, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Endlich tauchten die ersten Häuser von Bad Neuheim vor uns auf. Ich hatte das Gefühl, dass wir für den Weg an diesem Morgen viel länger gebraucht hatten also sonst. Inzwischen war es etwas heller geworden und auch das Leben schien langsam Einzug in die Umgebung zu halten. In einer kleinen Bäckerei brannten die Neonröhren an der Decke. Durch das Schaufenster konnte man deutlich die Verkäuferin erkennen, die einer frühen Kundin gerade eine Tüte mit Gebäck über die Theke reichte. Nur ein paar Momente später tauchte ein Radfahrer auf, der in Schal und Mütze gehüllt sein Rad vor der Ladentüre abstellte, um dann ebenfalls den Laden zu betreten. Die Türglocke war bis zu uns herüber auf die andere Straßenseite zu hören..

Schließlich erreichten wir den Ortsplatz und setzten uns nebeneinander auf die Bank des Buswartehäuschens. Die Konstruktion aus Plexiglas und Metall sah so aus, als wäre sie erst vor ein paar Monaten hier aufgestellt worden. Trotzdem waren die Scheiben bereits mit einigen Schmierereien und tiefen Kratzern verunziert. Sicher warteten hier unter der Woche Schüler aus Bad Neuheim auf den Bus, der sie in die nächstgrößere Stadt brachte, wo es neben dem Bahnhof, der an diesem Tag unser nächstes Ziel sein würde, wahrscheinlich auch ein Gymnasium oder eine Realschule gab. Heute am Samstag saßen wir ganz alleine hier. Auf der Straße vor uns war nicht besonders viel Verkehr und auf dem Ortsplatz ließen sich ebenfalls nur vereinzelt Passanten blicken.

Unser beider Schweigen setzte sich fort, während wir auf den Bus warteten. Jedes Mal, wenn ich mich zu Kevin umdrehte, versperrte mir seine Kapuze den Blick in sein Gesicht. Fast hatte ich den Eindruck, als wollte er sich unter ihr vor mir verstecken. Entweder sah ich nur seine Nasenspitze oder er hatte den Kopf ganz von mir abgewandt. Ich fragte mich, ob er da nur nach dem Bus Ausschau hielt oder ob er meinem Blick ganz bewusst auswich. Es war schwer zu deuten, was ihn im vorging. Vielleicht hatte er doch mehr Angst vor dem, was daheim auf ihn zukommen würde, als er mir oder sogar sich selbst eingestehen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass das Tageslicht seine Laune aufhellen würde.

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