Kapitel 4 - Albträume Den Abend verbrachten wir mit den Mädchen in der Cafeteria. Christina suchte wieder die Spiele für uns aus. Als wir nach 23.00 Uhr zurück ins Zimmer kamen, war ich müde und erschöpft. Der wenige Schlaf in der vergangenen Nacht und der lange Spaziergang mit Kevin machten sich langsam bemerkbar. Ich zog mich aus und ging noch kurz ins Bad. Kurz nachdem ich ins Bett gefallen war, war ich auch schon eingeschlafen. Kevin war den ganzen Abend über relativ fröhlich und gut gelaunt gewesen und ich hatte mir deswegen keine Sorgen mehr um ihn gemacht. Ich ahnte beim Einschlafen nicht, dass ihm wieder eine qualvolle Nacht bevorstand. Kurz nach zwei Uhr wurde ich wach. Normalerweise hätte ich mich wohl nur kurz umgedreht und wäre sofort wieder eingeschlafen, wäre der Raum nicht vom Mondlicht erhellt gewesen. Irgendwie musste ich das im Halbschlaf registriert haben. Es dauerte wohl eine Minute, bis ich halbwegs wach und orientiert war. Als ich schließlich richtig die Augen öffnete und erkundete, woher das Licht kam, erblickte ich Kevins Silhouette vor der Balkontür. Er hatte den Vorhang vor der Türe aufgezogen und blickte durch die Scheibe nach draußen. Anscheinend hatte er noch nicht bemerkt, dass ich aufgewacht war. Leise richtete ich mich im Bett auf. »Kevin?« flüsterte ich zu ihm hinüber. Er wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Augen, drehte dann seinen Kopf zur Seite und sah kurz zu mir herüber. Nach einem Moment blickte er wieder durch das Fenster. »Kannst du wieder nicht einschlafen?« fragte ich ihn leise. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sich meine Stimme irgendwie verärgert oder sogar vorwurfsvoll anhörte. Er schüttelte langsam den Kopf. Ich schlug die Bettdecke zurück, stand auf und ging langsam zu ihm hinüber. Es war kalt im Zimmer und ich fröstelte ohne meine warme Decke. Erst als ich direkt hinter ihm stand, bemerkte ich, dass er am ganzen Körper zitterte. »Mensch, du frierst ja«, sagte ich ganz erschrocken. Schnell lief ich hinüber zu Kevins Bett und holte seine Bettdecke. Sein Bett fühlte sich ganz kalt an. Offenbar stand er schon eine ganze Weile so da. Ich legte ihm die Decke vorsichtig um die Schultern. Bereitwillig griff er danach und wickelte sie sich so gut es ging um seinen Körper. Ich umarmte ihn von hinten und drückte ihn sanft an mich. Seine Locken kitzelten an meinem rechten Ohr. Eine Weile standen wir so schweigend da. Immer wieder wischte er sich mit einem Zipfel der Bettdecke ein paar Tränen aus den Augen. Ab und zu schniefte er. Mit der Zeit hörte er wenigstens auf zu zittern. »Die Nächte sind die Hölle«, sagte er schließlich leise. Seine Stimme bebte. »Der absolute Horror.« Er verstummte wieder und starrte schweigend in die Nacht. Ich stand jetzt direkt neben ihm vor dem Fenster, hatte meinen Arm um ihn gelegt und streichelte seine Schulter. Über das Balkongeländer konnte man gerade noch die äußerste Reihe des Klinikparkplatzes sehen. Ein paar Lampen warfen dort gespenstische Schatten auf das Pflaster. Die Silhouetten der Bäume im Hintergrund zeichneten sich im Mondlicht klar und deutlich ab. Ab und zu zogen auch um diese Zeit noch die Scheinwerfer von Autos hinter den dicken Stämmen vorbei. Der Mond stand direkt über unserem Fenster am sternenklaren Himmel. Es war Vollmond. »Hey, ich bin bei dir«, flüsterte ich ihm zu. Ich wusste nicht, ob meine Worte ihm irgendwie helfen konnten. Ich fühlte mich hilflos und war mit der Situation völlig überfordert. »Sobald ich im Bett liege, sehe ich immer wieder die Bilder vom Unfall vor meinen Augen«, sprach er nach einer Weile weiter. »Jede Nacht.« Ich strich ihm sanft durch sein Haar. Wieder schwieg er eine Zeitlang. »Und wenn ich dann doch endlich einschlafe, dann kommen diese scheiß Albträume.« In seiner Stimme schwang so viel Verzweiflung mit, dass ich nun selbst Tränen in den Augen hatte. Er drehte sich langsam zu mir um, und sah mich mit traurigen Augen an. Ein paar Tränen flossen ihm über die Wangen. Sie funkelten im Mondlicht. »Ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll«, presste er mit tränenerstickter Stimme heraus. Dann schluchzte er, legte seinen Kopf auf meine Schulter und begann hemmungslos zu weinen. Ich umarmte ihn und drückte ihn an mich, so fest ich konnte. Mir liefen nun selbst die Tränen herunter. Langsam bugsierte ich ihn hinüber zu seinem Bett und wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante. Ich hielt ihn noch immer eng umschlungen und ließ ihn sich an meiner Schulter ausweinen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen. Nur langsam beruhigte er sich wieder. Irgendwann entwand er sich vorsichtig aus meiner Umarmung und wischte sich die Tränen weg. »Oh Mann«, seufzte er tief durch und schüttelte dabei den Kopf. Erst jetzt merkte ich, dass ich eiskalte Beine hatte und fürchterlich fror. Kevin hatte zwar immer noch die Decke um den Oberkörper gewickelt, seine Füße und Schenkel waren aber ebenfalls die ganze Zeit der Kälte im Zimmer ausgesetzt gewesen. »Ist dir kalt?« fragte ich ihn. Er nickte. »Komm, leg dich wieder ins Bett.« Er gehorchte und ich half ihm dabei, sich zuzudecken. Ich wickelte ihm die Decke fest um die Beine. Dann holte ich mir schnell meine eigene Decke, wickelte mich darin ein und setzte mich so zu Kevin aufs Bett. Kevin lag mit dem Gesicht zu mir auf dem Kopfkissen und sah mich an. »Soll ich wieder die Ärztin rufen?« fragte ich ihn. »Nein«, antwortete er entschieden und fügte ein fast flehentliches »Bitte nicht!« hinzu. »Warum denn nicht?« fragte ich zurück. »Bitte«, sagte er nochmals. »Ich hab Angst, dass die mich zurück in die Psychiatrie schicken, wenn ich jede Nacht Hilfe brauche.« Er war nahe daran, wieder in Tränen auszubrechen. »Wie kommst du darauf?« »Ich weiß nicht, die Fröschl hat heute Vormittag so eine komische Bemerkung gemacht. Wegen gestern Nacht und so.« Ich war völlig ratlos. Was sollte ich nur tun? »Glaubst du, dass du jetzt schlafen kannst?« fragte ich ihn nach einer Weile. Ich sah, wie er mit den Schultern zuckte. Das Mondlicht schien immer noch durch die offene Gardine. Vielleicht hätte ich vorhin doch besser Licht machen sollen. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits wollte ich nicht gegen seinen Willen handeln, andererseits war mir klar, dass Kevin eigentlich wieder die Hilfe der Ärztin benötigte. Ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich spürte, dass er nahe daran war, sich zu öffnen. Wenn er nun zurück in die Psychiatrie kam, würde dieser Fortschritt wahrscheinlich wieder zunichte gemacht werden. Außerdem hatte ich ihn lieb gewonnen und wollte die Zeit hier nicht mehr ohne ihn verbringen. Meine Gefühle zählten aber jetzt nicht, es ging nur darum, was für Kevin das Beste war. Und da war ich mir leider alles andere als sicher. »Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich werd erst mal niemanden holen. Vielleicht kannst du ja jetzt doch einschlafen.« »Danke«, sagte er leise. Ich stand auf. Mit der Bettdecke um meine Schultern lief ich hinüber zur Balkontür. Als ich gerade den Vorhang wieder zuziehen wollte, hörte ich Kevin sagen: »Kannst du den bitte offen lassen?« »Ja, klar«, antwortete ich und machte mich auf den Weg zurück zu meinem Bett. »David?« meldete sich Kevin leise, als ich mich gerade hinlegen wollte. »Ja?« »Kannst du bei mir bleiben?« »Ich bin doch hier.« »Nein, hier an meinem Bett«, flüsterte er schüchtern. »Kannst du dich zu mir ins Bett legen? Bis ich eingeschlafen bin?« »Wenn du willst?« »Ja.« Ich nahm mein Kopfkissen und meine Decke und lief zu ihm hinüber. Er drehte sich auf die andere Seite und rückte mit seinem Kissen nahe an die Wand. Ich legte mein Kopfkissen neben seines und wickelte mich in meine Bettdecke. Dann legte ich mich neben ihn auf die Matratze. »Versuch jetzt zu schlafen«, flüsterte ich ihm zu. Ich legte einen Arm um seinen Körper und blieb so ruhig wie möglich liegen, um ihn beim Einschlafen nicht zu stören. Nach einer Dreiviertelstunde hörte ich an seinem gleichmäßigen Atem, dass er schließlich doch noch eingeschlafen war. Ich rollte mich ganz vorsichtig aus dem Bett und schlich hinüber zu meinem eigenen. Ich glaubte nicht, wieder einschlafen zu können. Zu aufwühlend waren die Ereignisse der Nacht gewesen. Irgendwann weit nach vier Uhr musste ich aber dann doch wieder eingeschlummert sein. Kurz nach sieben wurde ich dann von einem Aufschrei geweckt. Ich war sofort hellwach. Draußen war es noch dunkel, der Mond war verschwunden. Bald würde es zu dämmern beginnen. Als ich hinüber zu Kevins Bett blickte, sah ich den Umriss seines Oberkörpers im Dunkeln. Er saß aufrecht im Bett und atmete heftig. Ich machte Licht. Er hatte sich mit den Händen hinter dem Rücken aufgestützt und ließ den Kopf hängen. Ich stand auf und kniete mich neben sein Bett. Er war nass geschwitzt. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Sein T-Shirt klebte an seinem Rücken. »Hattest du einen Albtraum?« fragte ich ihn leise. Sein Nicken war fast nicht zu bemerken. Er wirkte völlig verstört und schien mich kaum wahrzunehmen. Er sprach kein Wort, sah mich nicht einmal an. »Ich hole jetzt Hilfe, okay?« sagte ich. Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er gab mir ohnehin keine Antwort. Im Moment schien er völlig willenlos zu sein. Ich griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der medizinischen Zentrale. »Zentrale, Dr. Friedrichs«, meldete sich eine männliche Stimme. »Hier ist Zimmer 213. Kann ich bitte Frau Dr. Ballheim sprechen?« »Die ist gerade gegangen. Sie hat nur bis sieben Uhr Dienst.« »Ach so«, sagte ich. »Ich brauche einen Arzt.« »Ja, was ist los?« antwortete die Stimme. »Mein Zimmergenosse hatte einen schlimmen Albtraum. Er ist völlig am Ende.« »Sagen Sie ihm, er soll runter in die Zentrale kommen.« »Können Sie nicht hochkommen?« »Ist er körperlich nicht in der Lage, selbst zu kommen?« fragte die Stimme. »Doch, ich denke schon«, antwortete ich zögerlich. »Er ist halt nicht angezogen.« »Dann soll er sich anziehen und herunterkommen, okay?« »Ja, na gut«, sagte ich enttäuscht und legte wieder auf. Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Der Mann am anderen Hörer hatte sich fast desinteressiert angehört. Ich war ein wenig wütend über seine gleichgültige Haltung. »Du sollst runter in die Zentrale kommen«, sagte ich leise zu Kevin. Er wirkte immer noch völlig apathisch. »So?« fragte er schließlich leise und zupfte dabei an seinem verschwitzten T-Shirt. Ich zögerte einen Moment. Ich fühlte mich hilflos und alleingelassen. Warum konnte dieser blöde Arzt denn nicht hochkommen? »Schaffst du es unter die Dusche?« Er nickte. Langsam stand er auf und tappte geistesabwesend ins Bad. Ich war über seinen Zustand entsetzt und erkannte in ihm den gut gelaunten Jungen von gestern Nachmittag kaum wieder. Er schaltete das Licht in der Dusche ein, zog sein T-Shirt und seine Boxershorts aus und ließ beides achtlos am Boden liegen. Ich traute mich nicht, ihn jetzt alleine zu lassen. Er stellte sich neben die Dusche und wartete, bis ich das Wasser aufgedreht und die richtige Temperatur eingestellt hatte. Dann zog ich den Duschvorhang hinter ihm zu. Einen Spalt ließ ich offen. Nicht weil mich sein nackter Körper interessierte. Dafür fehlte mir im Moment jeder Sinn. Ich hatte einfach nur Angst um ihn und wollte ihn keinen Moment aus den Augen lassen. Er streckte seinen Arm durch den Spalt und ließ sich von mir einen großen Klecks Duschgel auf die flache Hand spritzen. Dann seifte er seine Haare und seinen Körper damit ein und blieb so lange unter dem warmen Wasserstrahl stehen, bis dieser die ganze Seife von alleine wieder abgewaschen hatte. Irgendwann stellte er schließlich das Wasser ab. Als ich gerade den Vorhang aufzog, um ihm sein Badetuch zu reichen, brach er plötzlich weinend zusammen. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand hinunter und blieb mit angewinkelten Knien in der Duschwanne sitzen. Laut schluchzend saß er da, schlang seine Arme um die angezogenen Beine und legte den Kopf zwischen die Knie. Ich wickelte ihn vorsichtig in sein Badetuch und griff dann nach seiner Hand. Schwerfällig stand er auf. Ich nahm ihn einen Moment in die Arme und strich ihm durch das nasse Haar. Er schien sich mittlerweile wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Als er mich ansah, waren seine Augen nicht mehr so leer wie noch vor einigen Minuten. Er strich sich jetzt auch seine nassen Locken zur Seite, die ihm die ganze Zeit über ins Gesicht gehangen hatten. Bisher schien ihn dies nicht gestört zu haben. Er war nun auch nicht mehr so teilnahmslos und begann, sich abzutrocknen. Er wickelte sich das Badetuch um den Körper und nahm sich eines der anderen Handtücher, um sich damit die Haare trocken zu rubbeln. Ich hatte den Eindruck, dass ich ihn jetzt wieder alleine lassen konnte. »Geht's wieder einigermaßen?« fragte ich ihn. Er sah mich an und sagte: »Ja, ist okay.« »Soll ich dir frische Wäsche bringen?« »Lass nur, hol ich mir dann selber.« Als ich das Bad verließ und gerade die Tür schließen wollte, rief er mir hinterher. »Hey, David.« Ich drehte mich um und steckte meinen Kopf noch einmal durch den Türspalt. Kevin sah mich an und versuchte zu lächeln. »Danke«, sagte er leise. »Ist schon okay«, antwortete ich. Während er sich fertig abtrocknete, kam ich endlich dazu, mich vollständig anzuziehen. Als ich fertig war, kam er mit dem Handtuch um die Hüften aus der Dusche und nahm sich frische Unterwäsche aus seinem Kleiderschrank. Er setzte sich auf sein Bett und zog sich langsam an. »Geht's dir immer so schlecht, wenn du einen Albtraum hattest?« fragte ich ihn, als er in seine Socken schlüpfte. Er nickte. »Ich sag doch, es ist die Hölle«, antwortete er. Als er fertig angezogen war und sich die Haare geföhnt hatte, ging ich mit ihm in die medizinische Zentrale hinunter. Er hatte mich gebeten mitzukommen. Noch immer sah er recht mitgenommen und niedergedrückt aus. Ich klopfte an und wir traten ein. Eine Theke teilte den Raum in zwei Teile. Der Platz hinter der Theke war dem Personal vorbehalten. Hier waren zwei Männer und eine Frau damit beschäftigt, Patientenakten durchzusehen. Außer uns beiden waren keine anderen Patienten im Raum. »Guten Morgen«, sagte ich, als keiner der drei von sich aus auf uns aufmerksam wurde. Einer der Männer blickte auf und kam zu uns herüber. »Ja, bitte?« fragte er. »Ich habe vorhin hier angerufen und mit einem Dr. Friedrichs gesprochen. Wegen Kevin.« Ich blickte auf Kevin, der verschüchtert und mit gesenktem Kopf einen Meter rechts hinter mir stand, um den Mann auf ihn aufmerksam zu machen. »Ah ja«, antwortete der Mann hinter der Theke. »Ich bin Dr. Friedrichs.« Er sah zu Kevin hinüber. »Sie haben aber lange gebraucht. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.« »Ich hab noch geduscht«, antwortete Kevin leise. Dr. Friedrichs kam noch vorne und forderte Kevin auf, sich auf eine Liege zu legen. »Sie hatten einen Albtraum?« fragte er. Er schien nicht mehr ganz so gleichgültig zu sein, wie vorhin am Telefon. Kevin nickte. »Ja, war ziemlich heftig«, antwortete er. Der Arzt überprüfte Kevins Puls und Blutdruck. »Na, inzwischen haben Sie sich ja wieder einigermaßen beruhigt«, meinte er, nachdem er mit seiner kurzen Untersuchung fertig war. »Er war vorhin ganz schön fertig, kaum ansprechbar«, schaltete ich mich ein. »Können Sie ihm irgendwas geben, damit es ihm besser geht?« »Wir vermeiden hier so weit es geht Medikamente. Er scheint sich ja inzwischen ganz gut erholt zu haben.« Der Arzt schien das Ganze nicht sonderlich ernst zu nehmen. »Geben Sie ihm wenigstens was für die nächste Nacht«, forderte ich ihn auf. Dr. Friedrichs wandte sich wieder Kevin zu. »Na gut, ich werde einen Vermerk in Ihrer Akte machen. Wenn Sie möchten, können Sie sich heute Abend hier etwas holen, damit Sie besser schlafen können. Kommen Sie vorbei, bevor Sie ins Bett gehen. Aber reden Sie auf jeden Fall in der Gruppensitzung über Ihre Albträume.« »Heute am Donnerstag haben wir keine Gruppe«, antwortete ich an Kevins Stelle. »Ja, dann eben morgen. Das ist wirklich wichtig. Wir können Ihnen hier nicht ständig Medikamente geben. Wenn Sie eine medikamentöse Therapie möchten, sind Sie hier bei uns falsch.« Ich wünschte sofort, der Arzt hätte die letzten Sätze nicht gesagt. Sie hatten Kevin nur unnötig unter Druck gesetzt. Als wir zurück in unserem Zimmer waren, bemerkte ich sofort die Wirkung, welche die Worte des Arztes auf Kevin gehabt hatten. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Wieder lernte ich eine neue Seite an ihm kennen. Er schien eher wütend zu sein als deprimiert. Als ich ihn nach einer Weile fragte, ob er mit zum Frühstück kommen wolle, blaffte er mich aggressiv an. »Hey, geh allein und lass mich in Ruhe, okay?« Ich ging also ohne ihn hinunter. Die Mädchen beratschlagten bereits, wie sie den freien Tag verbringen konnten. An diesem Tag war nicht nur keine Gruppentherapie, wir fünf hatten auch keinerlei andere Verpflichtungen. Viele individuelle Therapien würden ohnehin erst in der nächsten Woche beginnen. Für den Vormittag standen wieder einmal Gesellschaftsspiele auf dem Plan. Wenn wir so weitermachten, hatten wir am Ende unseres Aufenthalts das gesamte Spielesortiment der Klinik durch. Nach dem Mittagessen wollten die Mädchen dann in den Ort. Bevor ich mit den Dreien hinüber in die Cafeteria ging, sah ich noch einmal nach Kevin. »Wir spielen unten in der Cafeteria Risiko. Kommst du mit runter?« fragte ich ihn. »Nein, keine Lust«, antwortete er kurz und knapp. An seiner Stimmung schien sich noch nichts geändert zu haben. »Du kannst ja später nachkommen«, versuchte ich es noch einmal. »Ja, in Ordnung«, erwiderte er genervt. Ich gab es auf und ging wieder nach unten zu den Mädchen. Nach knapp zwei Stunden tauchte er dann doch bei uns am Tisch auf. Es war bereits kurz vor elf. Schüchtern kam er auf uns zu. »Kann ich noch mitmachen?« fragte er zögerlich. »Klar«, antworteten Christina und Gudrun beinahe gleichzeitig und lächelten ihm zu. Gequält lächelte er zurück. Er schien immer noch dringend etwas Aufmunterung gebrauchen zu können. »Komm schon, setz dich«, forderte ich ihn freundlich auf. Er nahm auf dem Stuhl neben mir Platz. »Sorry wegen vorhin«, sagte er leise. »Schon okay«, antwortete ich. Er schien zumindest seine schlechte Laune überwunden zu haben. Ich hoffte, seine seelische Verfassung würde im Laufe des Tages ebenfalls besser werden. Leider wurde meine Hoffnung enttäuscht. Er verbrachte zwar den ganzen Tag mit unserer Gruppe, blieb aber meist still und unbeteiligt. Als wir nach dem Mittagessen in den Ort liefen, trottete er nur stumm hinter uns her. Jeder Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, scheiterte kläglich. Er schenkte zwar jedem ein gequältes Lächeln, der versuchte, ihn einzubeziehen, das war aber auch schon alles. Nach dem Abendessen verzog er sich dann aufs Zimmer, während sich der Rest unserer Gruppe wieder in die Cafeteria setzte und ein weiteres Spiel aus den Regalen hinter der Rezeption ausprobierte. Schon bald verlor ich daran die Lust. Kevin ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte Angst vor der nächsten Nacht. Er würde zwar ein Schlafmittel bekommen, aber würde dies die Alpträume verhindern? Und was war mit der Nacht darauf? Wie sollte das weitergehen? Ich verabschiedete mich von den Mädchen und ging hoch ins Zimmer. Kevin lag angezogen auf seinem Bett und starrte die Decke an. Ein Taschenbuch lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten neben ihm. »Alles klar?« fragte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Er nickte nur. »Was liest du da?« wollte ich wissen. Ich fragte eigentlich nur, um vielleicht doch endlich wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Kann mich nicht darauf konzentrieren.« »Ach so.« Es schien aussichtslos zu sein. Also legte ich mich ebenfalls auf mein Bett und nahm mir einen der Romane, die ich mitgebracht hatte. Als ich auf der dritten Seite angelangt war, stellte ich fest, dass ich mich an nichts von dem mehr erinnern konnte, was ich da eigentlich gerade gelesen hatte. Ich begann also noch einmal von vorne, doch wieder blieb das Gelesene in irgendwelchen Hirnwindungen hängen, in denen es eigentlich nichts zu suchen hatte. Entnervt legte ich das Buch zur Seite. Ich blieb auf dem Rücken liegen und betrachtete eine Weile die Struktur der weiß getünchten Raufasertapete an der Zimmerdecke. »Scheiße, Kevin, sag endlich was«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Ich mach mir echt Sorgen um dich.« »Ich bin schon okay«, antwortete er leise. Seine Stimme hörte sich alles andere als überzeugend an. »Willst du nicht endlich reden?« »Mit dir?« »Ja. Oder mit wem du hier halt am ehesten reden kannst.« »Und was soll ich dir erzählen?«, fragte er hilflos. Ich überlegte einen Moment. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, was ich da gerade machte. »Naja, was halt gerade in dir vorgeht. Warum du den ganzen Tag schon so niedergeschlagen bist.« »Das ist doch wohl klar, oder?« »Wegen letzter Nacht. Der Albtraum und so«, stellte ich fest. »Nicht nur.« »Dann red doch endlich«, forderte ich ihn verzweifelt auf. »Verdammt, ich weiß halt einfach nicht, wie es weitergehen soll. Ich bin einfach nur am Ende«, sagte er schließlich. Seine Stimme bebte. »Ich hab eine scheiß Angst vor der nächsten Nacht. Und vor der übernächsten. Und der danach.« »Hey, du bekommst heute doch was, damit du schlafen kannst.« »Und morgen? Und übermorgen?«, fragte er verzweifelt. »In der Psychiatrie haben die mich wenigstens mit Medikamenten voll gepumpt. Aber hier ist es wieder genau so wie daheim. Was glaubst du, warum ich mich umbringen wollte? Ich hab die scheiß Nächte mit den ganzen Erinnerungen und diesen beschissenen Albträumen nicht mehr ausgehalten.« »Willst du doch wieder zurück in die Psychiatrie?«, fragte ich ängstlich. Ich richtete mich auf und blickte zu ihm hinüber. Er schüttelte den Kopf. »Die können mich da auch nicht ewig mit Medikamenten voll stopfen. Aber am Ende wird's trotzdem darauf hinauslaufen, dass die mich wieder dorthin zurückschicken.« Er wirkte resigniert. »Hier können die mir ja doch nicht helfen«, meinte er. »Hey, jetzt wart's doch erst mal ab.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Als ich hier angekommen bin, hab ich echt gedacht, dass ich wieder einigermaßen mit meinem Leben klar komme, wenn ich hier wieder raus bin. Aber jetzt? Du hast ja gehört, was der Arzt heute früh gesagt hat. Ich bin hier falsch.« »So hat er das doch nicht gemeint«, widersprach ich. Er zuckte mit den Schultern. »Weißt du, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, am ersten Tag zu euch in das Gruppenzimmer zu kommen?« fragte er nach einiger Zeit. »Nein, warum?«, erwiderte ich verwundert. »Ihr seid da so locker dagesessen. Und ich? Ich komme direkt aus der Psychiatrie. Aus der geschlossenen Abteilung. Und hab 'nen Selbstmordversuch hinter mir. Ich bin mir vorgekommen wie so ein Aussätziger, wie ein totaler Freak.« Ich sah hinüber zu Kevins Bett. Er lag immer noch auf dem Rücken und sah an die Decke. Jetzt konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie er sich am ersten Tag hier gefühlt haben musste. Sein merkwürdiges Verhalten wurde mir jetzt klarer. »Hey, das bist du aber nicht«, sagte ich. »Ich komm mir aber so vor, Mann.« Er machte eine kurze Pause und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Mensch, ich hab dich gebeten, bei mir im Bett zu schlafen, weil ich sonst nicht einschlafen kann! Und heut Morgen musstest du mir sogar beim Duschen helfen! Wie soll ich mir da normal vorkommen?« Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Er starrte immer noch an die Decke und konnte mich bestenfalls aus den Augenwinkeln sehen. »Ich hab's aber gerne gemacht«, sagte ich nach einer Weile. Was für eine total bescheuerte Antwort. »Ja, ich kann echt froh sein, mit einem Schwulen zusammen in einem Zimmer zu wohnen, der scharf auf mich ist. Jemand anders hätte sich wahrscheinlich schon längst in ein anderes Zimmer verlegen lassen.« Wenn ich nicht gewusst hätte, wie verzweifelt Kevin im Moment war, hätte mich dieser Satz sicher verletzt. »Hey, ich hab das gemacht, weil ich dich mag, und nicht, weil ich mit dir ins Bett will oder scharf auf deinen nackten Körper unter der Dusche bin«, erwiderte ich. Er sah schuldbewusst zu mir herüber, schlug dann seufzend die Hände vor sein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Mann, tut mir leid, ich bin echt ein Vollidiot«, sagte er nach einer Weile. »Du schlägst dir hier wegen mir die Nächte um die Ohren und kommst kaum zum Schlafen und dann rede ich auch noch so einen Bockmist.« »Ist schon okay.« »Nein, ist es nicht. Du bist der einzige, der hier für mich da ist. Ich bin echt froh, dass du hier bist.« »Hey, die Mädchen mögen dich doch auch. Die wären sicher genauso für dich da. Du musst ihnen nur endlich sagen, was mit dir los ist.« »Ach komm, die müssen mich doch inzwischen für einen totalen Spinner halten, so wie ich mich in den letzten Tagen verhalten habe.« »Erzähl ihnen doch einfach vom Unfall deines Bruders und wie es dir seitdem geht. Dann werden sie dich sicher verstehen.« »Meinst du?« »Ja, klar.« »Ich weiß nur nicht, ob ich darüber reden kann«, sagte er nach einer Weile. »Versuch's doch einfach morgen in der Gruppensitzung«, schlug ich vor. Kevin zuckte mit den Schultern. »Du schaffst das schon«, machte ich ihm Mut. »Ich bin doch auch dabei. Und vielleicht geht's dir hinterher besser.« »Okay«, sagte er schließlich.
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