Kapitel 6 - Thomas Das Wochenende verlief bis Sonntagmittag recht ereignislos. Kevin schien es derweil immer besser zu gehen. Ich hatte den Eindruck, dass er sich in der Gruppe nun richtig wohl fühlte. Zumindest machte er keinerlei Anstalten mehr, sich zurückzuziehen. Die Mädchen hatten ihn seit unserer privaten Therapiesitzung am Freitag ohnehin in ihr Herz geschlossen. Er konnte sich vor tröstenden Umarmungen und diversen anderen Zärtlichkeiten kaum retten, falls er auch nur für einen Augenblick einen niedergeschlagenen Eindruck machte. Sonntags nach dem Mittagessen meldeten wir uns dann geschlossen an der Rezeption. Dort sagte man Herrn Schwarz, dem Hausmeister, Bescheid, dass wir mit zum Bahnhof fahren wollten, um unser neues Gruppenmitglied abzuholen. Der Zug würde kurz nach ein Uhr ankommen. Wir warteten auf einer der Sitzgruppen, bis der Hausmeister schließlich auftauchte. »Wollt ihr alle mitkommen?« fragte er erstaunt, als er uns sah. »Also mehr als zwei oder drei von euch kann ich unmöglich mitnehmen. Ich hab die hintere Sitzbank gerade nicht eingebaut.« Die Entscheidung, wer von uns nun mitkommen sollte, fiel nicht schwer. Da das neue Gruppenmitglied männlich war, würden Kevin und ich das erste Begrüßungskomitee bilden. »Na, dann kommt mal mit, ihr zwei«, meinte der Hausmeister. Er war der erste Klinikmitarbeiter der uns einfach duzte. Ich wünschte, der Rest des Personals wäre ebenso locker und nicht so professionell distanziert. Wir quetschten uns neben Herrn Schwarz auf den breiten Beifahrersitz des VW-Busses und fuhren los. »Normalerweise kommen die Patienten bei uns nicht mit fast einer Woche Verspätung an«, meinte er, nachdem er vom Parkplatz auf die Hauptstraße abgebogen war. »Wir wissen auch nicht, warum der erst heute kommt. Wissen Sie, was da los war?«, wollte ich wissen. »Keine Ahnung, mir sagt man so was nicht. Ich weiß nur, dass ich jemanden um 13.07 Uhr vom Bahnhof abholen soll.« Den Rest der Fahrt unterhielt uns der Hausmeister mit nicht ganz stubenreinen Witzen. Er schien wirklich ein ganz netter Kerl zu sein. Naja, vielleicht würde ich meine Meinung noch ändern müssen, falls er irgendwann anfangen sollte, Witze über Schwule zu machen. Damit verschonte er uns aber glücklicherweise. Ich schätzte ihn auf Anfang 50. Als ich ihn noch einmal mit 'Sie' ansprach, meinte er »Ihr könnt ruhig 'Du' zu mir sagen. Ich nehm das nicht so genau. Ich heiße Ludwig.« Nach etwa 20 Minuten hatten wir die Stadt und den Bahnhof erreicht. »Weißt du, auf welchem Bahnsteig der Zug ankommt?« fragte ich den Hausmeister, bevor wir ausstiegen. »Nein, da müsst ihr selber nachsehen. Sind aber sowieso nur drei Bahnsteige. Und heute am Sonntag ist kaum was los. Ihr könnt ihn eigentlich gar nicht verfehlen. Geht einfach rein. Ich warte hier.« Kevin und ich stiegen aus und betraten das Bahnhofsgebäude. Es war in der Tat nur ein typischer Kleinstadtbahnhof. Die Verkäuferin in dem kleinen Zeitungskiosk saß gelangweilt an der Kasse. Nur in die kleine Bahnhofskneipe hatten sich ein paar Gäste verirrt. Dies schienen aber eher Stammgäste als Reisende zu sein. Der Bahnhof machte insgesamt einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Offensichtlich war das Bahnhofsmodernisierungsprogramm der Deutschen Bahn AG noch nicht bis hierhin vorgedrungen. Durch eine knarrende Schwingtüre traten wir hinaus auf den Bahnsteig. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Fast hatte man den Eindruck, hier würde nur alle paar Wochen mal ein Zug ankommen. An einer Tafel hing ein Fahrplan. Der Zug würde gleich hier auf Gleis 1 in knapp zehn Minuten eintreffen. Zumindest falls er pünktlich war. »Bin ja gespannt, was das für einer ist, der Neue«, meinte Kevin. »Werden wir ja bald sehen.« »Möchte wirklich wissen, warum der erst heute kommt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht verrät er's uns ja.« Wir trotteten eine Weile den Bahnsteig auf und ab. Auf dem freien Gelände war es ziemlich windig. Wenigstens war es nicht mehr so kalt wie noch vor ein paar Tagen. Eine Kapuze wäre jetzt ganz angenehm gewesen, nicht nur wegen der Kälte. Seit Mittwoch hatte ich keines meiner Kapuzensweatshirts mehr angehabt. Irgendwie war ich nie in der richtigen Stimmung dazu gewesen und heute hatte ich einfach nicht daran gedacht. Irgendwann hörten wir dann tatsächlich einen Zug näher kommen. Eine halbe Minute später zog eine uralte Diesellokomotive einen aus vier Wagen bestehenden Nahverkehrszug in den Bahnhof. Die Bremsen quietschten und der erste Wagen blieb direkt vor unserer Nase stehen. Ein paar Türen öffneten sich. Man mochte es kaum glauben, aber es stiegen tatsächlich mehrere Personen in dieser Einöde aus. Direkt vor uns verließ ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern den Zug, ein Stück weiter hinten quälte sich ein älterer Herr mit Stock aus einer der anderen Türen. »Siehst du irgendwo einen Jungen in unserem Alter?« fragte ich Kevin. »Nein, vielleicht ist das ja der falsche Zug.« »In der nächsten Stunde kommt kein anderer.« Kevin reckte seinen Hals und sah an den aussteigenden Personen vorbei bis zum Ende des Zuges. »Hey, sieh mal da hinten. Der da könnte es sein«, rief er plötzlich. Ich drehte mich um und erblickte einen Jungen, der gerade eine Reisetasche und zwei Tüten aus der hintersten Türe des letzten Wagens hob und auf dem Bahnsteig abstellte. »Ja, das muss er sein«, sagte ich. Wir setzten uns in Bewegung und liefen auf den Jungen zu. Dieser hatte sein Gepäck inzwischen neben sich abgestellt und war dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. »Ein Raucher, auch das noch«, murmelte ich etwas ernüchtert. Bisher hatte unsere Gruppe glücklicherweise nur aus Nichtrauchern bestanden. »Wetten, dass der schwul ist?« sagte Kevin plötzlich. »Hey, woher willst du das wissen?« fragte ich etwas ärgerlich zurück. »Nur so ein Gefühl.« Der Neuankömmling blickte uns an, als wir bis auf wenige Schritte an ihn herangekommen waren. Er war etwa 1,75 m groß und hatte kurze, hellblonde Haare. An einer Augenbraue hatte er ein Piercing, außerdem trug er Ohrringe. Er schien in unserem Alter zu sein, vielleicht etwas jünger. Sein Gesicht wirkte recht feminin. Irgendwie sah er schon ein wenig so aus, wie sich manche Menschen wohl einen Schwulen vorstellten. Mein Typ war er aber nicht unbedingt. »Hey, seid ihr wegen mir hier?« wollte er wissen. »Falls du in die Klinik nach Bad Neuheim willst, dann schon«, antwortete Kevin. »Ja, da soll ich hin.« Er nahm seine Zigarette in die linke Hand und streckte uns dann nacheinander seine Rechte entgegen. »Hi, ich bin Thomas«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Thomas Hübner.« Wir schüttelten seine Hand und nannten ihm dabei ebenfalls unsere Namen. »Na, dann komm mal mit«, forderte ich ihn schließlich auf. »Hey, nur die Ruhe«, erwiderte er. »Lass mich erst mal fertig rauchen.« Ich warf einen Blick auf sein Gepäck. Die Reisetasche war nicht besonders groß und die zwei Plastiktüten waren auch nicht gerade dick gefüllt. »Ist das dein ganzes Gepäck?« wollte ich von ihm wissen. Er zuckte mit den Schultern. »Ja, wieso?« Wir grinsten ihn unwillkürlich an. Das schien ihn etwas verlegen zu machen. »Naja, viel mehr Klamotten hab ich halt nicht«, meinte er etwas schüchtern. »Hey, macht ja nichts. Es gibt Waschmaschinen in der Klinik«, antwortete ich. Anscheinend stammte er nicht aus so wohlhabenden Verhältnissen wie Kevin und ich. War ja auch nicht weiter schlimm. Wir beide konnten schließlich ebenfalls nichts dafür, so reiche Eltern zu haben. Ich hoffte, dass er mich aufgrund meiner unbedachten Frage nicht für arrogant hielt. Auch wenn er nicht viel Kleidung im Gepäck hatte, schien er zumindest einen guten Modegeschmack zu haben, der allerdings nicht völlig mit meinem eigenen übereinstimmte. Er trug hellgraue Cargopants, einen dunklen V-Pullover und eine modische Winterjacke, letztere zu meiner Enttäuschung ohne Kapuze. Naja, er war ja ohnehin nicht mein Typ. Als er seine Zigarette ausgedrückt hatte, griff er nach seinen Taschen und wir liefen den Bahnsteig entlang auf das Bahnhofsgebäude zu. Ich bot ihm an, ihm einen Teil des Gepäcks abzunehmen, und er reichte mir die beiden Tüten. »Warum kommst du eigentlich erst heute?« fragte Kevin neugierig. »Ach, ist 'ne längere Geschichte, erzähl ich euch später, okay?« »Ja, klar. Lern erst mal den Rest unserer Gruppe kennen«, antwortete ich. »Was für 'ne Gruppe?« fragte er verwundert und blieb stehen. »Wir sind mit dir zusammen in einer Gruppe, sind auch noch drei Mädchen dabei. Wir haben viermal in der Woche eine gemeinsame Therapiesitzung und hängen auch sonst oft gemeinsam rum«, erklärte ihm Kevin. »Ah so, ich hab nämlich überhaupt keine Ahnung, wie das hier so abläuft.« »Naja, wirst du schon noch sehen. Alles halb so wild«, sagte ich. »Jetzt komm erst mal. Ludwig wartet.« »Wer ist Ludwig?« »Der Hausmeister«, antwortete Kevin. Wir hatten inzwischen den Ausgang des Bahnhofsgebäudes erreicht und ich deutete durch die verglaste Schwingtüre nach draußen. »Der da in dem VW-Bus«, sagte ich. Ludwig hatte uns bereits entdeckt und stieg gerade aus. Er öffnete die seitliche Schiebetüre. Ohne sich vorher lange mit Begrüßungsfloskeln aufzuhalten forderte er Thomas auf, seine Tasche hinter die Sitzbank zu stellen. Ich stellte die Plastiktüten daneben und stieg dann hinter Thomas in den Bus ein. Ich setzte mich neben ihn auf die Rückbank, während Kevin wieder auf der Beifahrerseite einstieg. »Ist es weit bis zur Klinik?« wollte Thomas wissen. »Ungefähr 15 Kilometer, in 20 Minuten sind wir da«, antwortete Ludwig von vorne. Während der Fahrt bereiteten wir Thomas schon mal ein wenig auf das vor, was ihn ab jetzt erwartete. Er schien sich vorher nicht groß über die Klinik und darüber, was dort so alles ablief, informiert zu haben. Als er schließlich neben uns mit seiner Tasche in der Hand vor der Eingangstür stand, wirkte er dann auch etwas hilflos. »Wie geht's jetzt weiter?« fragte er unsicher. »Erst mal zur Rezeption«, antwortete ich. Während der Hausmeister den VW-Bus hinter uns wieder in Bewegung setzte und auf seinen angestammten Parkplatz lenkte, betrat Thomas gemeinsam mit Kevin und mir zögerlich die Eingangshalle. Wir sparten es uns, für seine spärlichen Habseligkeiten extra einen der Gepäckwagen zu bemühen. An der Rezeption wurde Thomas sofort freundlich von einer Klinikmitarbeiterin begrüßt. Ich sah mich nach den Mädchen um und entdeckte sie um die Ecke in der Cafeteria. Nachdem ich ihnen zugewinkt hatte, kamen sie neugierig herüber. Thomas hatte mittlerweile seinen Zimmerschlüssel erhalten. Da er nicht am normalen Anreisetag angekommen war, blieb ihm das restliche Begrüßungsprogramm erspart. Die Mädchen musterten ihn neugierig und reichten ihm nacheinander die Hand. Auf dem Bahnhof und unterwegs hatte Thomas noch einen recht selbstsicheren Eindruck gemacht, inzwischen schien ihn die ungewohnte Situation doch ziemlich einzuschüchtern. Unsicher stellte er sich den Mädchen vor. Über Nadines Aussehen schien er richtig erschrocken zu sein. Man konnte nur zu deutlich sehen, dass dies hier nicht seine Welt war. Nun, mir war es ja am Anfang auch nicht anders ergangen. »Bringen wir erst mal deine Taschen nach oben«, sagte ich zu Thomas, nachdem er den Mädchen die Hand geschüttelt hatte. »Okay«, antwortete er dankbar. »Wir sind in der Cafeteria, falls Thomas Lust auf etwas Gesellschaft hat«, teilte Gudrun uns mit und ging dann mit Christina und Nadine wieder zurück an den Tisch, auf dem noch diverse Tassen und Gläser auf die drei warteten. Thomas betrat mit Kevin und mir den Aufzug und wir fuhren nach oben in den zweiten Stock. »Mann, was ist denn mit der einen los? Wie hieß sie noch gleich? Nadine?« wollte Thomas wissen, nachdem sich die Fahrstuhltüre geschlossen hatte und wir unter uns waren. Nadines Anblick schien ihn regelrecht schockiert zu haben. »Noch nie 'ne Magersüchtige gesehen?« fragte Kevin zurück. Thomas schüttelte den Kopf. Die Fahrstuhltüre öffnete sich wieder und wir traten hinaus in den Gang. Ich deutete auf die Tür an der gegenüberliegenden Wand. »Hier findet immer unsere Gruppentherapie statt. Morgen um 15 Uhr geht's da auch für dich los.« Thomas nickte gedankenverloren. Er schien nun völlig den Überblick verloren zu haben. »Mann, zeigt mir erst mal mein Zimmer. Mir wird das alles zu viel hier.« Wir liefen den Gang entlang. Thomas' Zimmer lag schräg gegenüber von unserem eigenen. Es war das letzte im Gang. Er sperrte auf und trat ein. Die Einzelzimmer, die alle auf der rechten Seite des Ganges lagen, waren nicht ganz so geräumig wie die Doppelzimmer. Außerdem fehlte ihnen der Balkon. »Ich brauch jetzt erst mal 'ne Kippe«, stöhnte Thomas, nachdem er seine Tasche abgestellt hatte. »Im Zimmer ist Rauchen verboten. Und Balkon hast du leider keinen«, antwortete ich. »Und wo kann man hier dann rauchen?« »Hmm, ich glaub im Erdgeschoss und im Keller sind Aufenthaltsräume für Raucher.« »Oder oben auf dem Dach, im Freien, auf der Terrasse«, fügte Kevin hinzu. »Na toll«, stöhnte Thomas genervt. »Komm, wir gehen nach oben, da ist es wenigstens ruhig«, schlug ich vor. Thomas ließ sein Gepäck einfach mitten im Raum stehen und sperrte sein Zimmer wieder ab. Dann liefen wir zurück zum Aufzug. »Normalerweise reicht mir 'ne halbe Schachtel am Tag, aber heut hab ich glaub ich schon 'n ganzes Päckchen weggequalmt«, erzählte uns Thomas unterwegs. »Soll ich die Mädels holen? Dann können wir es uns nachher oben zusammen gemütlich machen«, fragte ich ihn. Er wirkte etwas verlegen. »Also, äh, wenn's euch nichts ausmacht ... äh, also, mir wär's ganz recht, wenn wir erst mal unter uns bleiben, so zu dritt mein ich«, stammelte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Wie du willst«, antwortete ich. »Irgendwie wird mir das sonst alles zu viel auf einmal«, meinte er entschuldigend. »Ist schon okay«, beschwichtigte ihn Kevin. Da der Aufzug gerade nicht da war, gingen wir die zwei Treppen nach oben zu Fuß hinauf. Wir waren wieder einmal die einzigen, die sich nach hier oben verirrt hatten. Wir stellten uns zu dritt ganz nach vorne an das Geländer der Dachterrasse. Von hier aus bot sich ein fantastischer Ausblick über den Klinikparkplatz und das angrenzende Gelände. Naja, um ehrlich zu sein, wirklich interessante Dinge gab es eigentlich nicht zu sehen. Thomas zündete sich eine Zigarette an. »Wollt ihr auch eine?« fragte er uns. Wir schüttelten beide den Kopf. »Nichtraucher«, antwortete ich knapp. »Vielleicht sollte ich mir das auch endlich wieder abgewöhnen«, meinte Thomas nachdenklich. »Gehen ganz schön ins Geld die Dinger.« »Ja, und wir müssten dann auch nicht hier raus in die Kälte«, erwiderte ich. »Oh, tut mir echt leid«, sagte Thomas fast ein wenig schuldbewusst. »Ihr könnt ruhig drinnen auf mich warten, wenn euch kalt ist.« »Hey, das sollte nur ein Scherz sein«, beschwichtigte ich ihn grinsend. Er grinste erleichtert zurück. Schweigend warteten wir, bis er fertig geraucht hatte. Dann gingen wir wieder nach innen. »Und, was jetzt?« fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du willst, können wir uns hier 'ne Weile hinsetzen«, schlug ich vor und deutete auf die verwaisten Sitzgruppen vor der breiten Glasfront. Er schien damit einverstanden zu sein. Wir zogen unsere Jacken aus und warfen sie übereinander auf einen Sessel. Dann setzten wir uns an einen der Tische. Ich nahm gegenüber von Thomas auf der Couch Platz und musterte ihn jetzt, wo er keine Jacke mehr anhatte, etwas genauer. Er war zwar ziemlich schmächtig, aber auch nicht ungewöhnlich dünn. Als mein Blick zufällig auf sein linkes Handgelenk fiel, entdeckte ich dort einen Verband, der ein Stück unter dem Ärmel seines Pullovers hervorlugte. Er musste wohl an meinem Gesichtsausdruck bemerkt haben, dass ich darauf aufmerksam geworden war, denn er zog den Arm reflexartig ein Stück zurück. Ich sah ihn erschrocken an. Er zuckte traurig mit den Schultern. »Pulsader aufgeschnitten«, sagte er leise. Er hob den linken Arm etwas an, stützte dabei den Ellenbogen auf der Seitenlehne seines Sessels ab, und schob mit der rechten Hand den Ärmel seines Pullovers zurück, bis der Verband um sein Handgelenk ganz zu sehen war. Ein paar Mal drehte er die Hand nach links und rechts. Scheinbar wollte er, dass wir den Verband von allen Seiten betrachten konnten. »Naja, ich hab's nur versucht. Ist mir nicht so ganz gelungen«, fügte er seufzend hinzu. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und war dankbar, dass Kevin reagierte. »Ich hab's mit Tabletten versucht, hat auch nicht geklappt.« Thomas sah ihn erstaunt an. »Echt?« fragte er. Kevin nickte. »Und, wolltest du wirklich sterben?«, hakte Thomas vorsichtig nach. »Ich denke schon«, antwortete Kevin leise. »Und du?« Thomas zuckte nur mit den Schultern. »Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich's doch nicht geschafft habe«, sagte er nach einer Weile. »Inzwischen bin ich das auch«, meinte Kevin. Irgendwie hatte Kevins letzter Satz eine merkwürdige Wirkung auf mich. Ich spürte, wie meine Tränendrüsen ein paar Tropfen Flüssigkeit produzieren wollten. Unterbewusst hatte ich mir wohl die ganze Zeit über Sorgen gemacht, ob Kevin nicht doch immer noch Suizidgedanken hegte. Seine Bemerkung eben hatte sich für mich so unglaublich ehrlich, fast feierlich angehört, dass mir nun ein riesiger Stein vom Herzen fiel. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die Angst, die ich in den letzten Tagen um Kevin gehabt hatte, war anscheinend viel größer gewesen, als mir bisher bewusst gewesen war. Noch ehe ich mir die Tränen abwischen konnte, bemerkten Kevin und Thomas meinen Gefühlsausbruch. »Hey, David, alles klar mit dir?« fragte Kevin etwas erschrocken. »Ja, sicher, was soll denn sein?« antwortete ich wenig überzeugend und wischte mit dem Ärmel meines Pullovers die Tränen weg. »Naja, sieht so aus, als ob du weinst«, erwiderte Kevin mit einem mitfühlenden Lächeln. Thomas saß nur erschrocken da und hatte nicht den blassesten Schimmer, was auf einmal mit mir los war. Kevin kam zu mir herüber auf das Sofa, setzte sich neben mich und nahm mich vorsichtig in den Arm. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und schluchzte los. Nun war es zur Abwechslung einmal Kevin, der mich streichelte und zu beruhigen versuchte. Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, wollte er wissen, was denn so plötzlich mit mir los gewesen war. Ich wusste nicht so recht was ich antworten sollte, entschied mich dann aber für die Wahrheit. »Ich weiß auch nicht. Als du zu Thomas gesagt hast, dass du auch darüber froh bist, dass du noch lebst, sind mir einfach die Tränen gekommen.« »Mann, du hast dir echt Sorgen um mich gemacht, oder?« fragte Kevin erstaunt. »Ich hatte eine scheiß Angst um dich«, sagte ich laut und sah ihm dabei in die Augen. Er nahm mich noch einmal in den Arm. »Hey, du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen«, flüsterte er mir ins Ohr. Ich weiß nicht mehr, wie lange mich Kevin in seinen Armen hielt. Wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden. Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Ich genoss jeden einzelnen Augenblick. Hatte ich mich doch in ihn verliebt? Obwohl ich wusste, dass er nicht schwul war? Ja, ich liebte ihn. Einhundertprozentig. Aber irgendwie mehr wie einen Bruder. Als Einzelkind hatte ich immer Geschwister vermisst. In Kevin schien ich nun so etwas wie einen Bruder gefunden zu haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Als ich schließlich zu Thomas hinüberblickte, sah dieser uns ganz verdattert an. »Seid ihr beide ein Paar?« fragte er vorsichtig. »Nö, keine Sorge«, antwortete Kevin blitzschnell. »David ist noch nicht vergeben.« Sein Humor und seine Schlagfertigkeit überraschten mich mal wieder. Diesmal fand ich Kevins Bemerkung aber nicht besonders lustig. Schließlich hatte er mich damit quasi vor Thomas geoutet. Dieser schien Kevins Bemerkung auch gleich richtig einzuordnen. »Du bist schwul?« fragte er mich. »Ja, und?« antwortete ich. »Boah, da bin ich aber echt erleichtert«, erwiderte Thomas. »Ich überleg schon die ganze Zeit, wie ich euch sagen soll, dass ich schwul bin.« »Na, hab ich's doch gewusst«, sagte Kevin und grinste mich an. »Was?« fragte Thomas verwundert. »Naja, als du aus dem Zug gestiegen bist, hat Kevin gleich vermutet, dass du schwul bist«, erklärte ich. Thomas sah uns verstört an. Sein Gesichtsausdruck deutete an, dass wir ihn irgendwie verletzt haben mussten. »Ja, deswegen hasst mich mein Vater auch so, weil man es mir eben gleich ansieht«, sagte er nach einer Weile leise mit gesenktem Kopf. »Hey, tut mir leid, wir wollten dich nicht verletzen«, entschuldigte ich mich erschrocken. »Ihr könnt nichts dafür. Ich mag es ja irgendwie sogar, dass manche Leute sofort denken, dass ich schwul bin. Nur mein Vater ...« Er brach den Satz ab. »Ist dein Vater daran schuld, dass du versucht hast, dich umzubringen?« fragte Kevin zögerlich. »Naja, unschuldig ist er daran ganz sicher nicht«, antwortete Thomas. In seiner Stimme schwang fast etwas Hass mit. »Willst du darüber reden?« fragte ich ihn. Er nickte. »Dann komm zu uns aufs Sofa, okay?« Thomas stand auf, kam herüber und setzte sich zwischen uns. Dann begann er, seine Geschichte zu erzählen. Er war 17 Jahre alt und stammte aus einem kleinen 2000-Seelen-Dorf. In der 20 Kilometer entfernten Stadt ging er auf die Realschule, falls er nicht gerade die Schule schwänzte und nur so in der Stadt herumhing. Mit seinen Mitschülern kam er wohl nicht besonders gut klar, was nicht zuletzt an seiner femininen Erscheinung lag. Er wiederholte gerade die neunte Klasse und schien auch früher schon mal sitzen geblieben zu sein. Oft nahm er abends erst den letzten Bus, um wieder nach Hause zu fahren. Dies lag daran, dass er seinem Vater möglichst aus dem Weg gehen wollte. Gunther Hübner war Metzgermeister. Im Gegensatz zu Thomas war er ein grobschlächtiger, muskulöser Kerl. Bis vor einigen Jahren hatte er in Thomas' Heimatort eine eigene kleine Metzgerei betrieben, einen alteingesessenen Familienbetrieb, den schon Thomas' Urgroßeltern aufgebaut hatten. Als dann eine Supermarktkette eine Filiale im Ort eröffnet hatte, war das Geschäft immer schlechter gelaufen. Schließlich musste sein Vater den Laden dichtmachen. Seitdem arbeitete er ein paar Orte weiter in einem Fleischzerlegebetrieb. Der berufliche Abstieg setzte ihm wohl zu. Seine Frustration ließ er nämlich immer häufiger an seiner Familie aus, an Thomas nicht nur verbal. Wenn er abends betrunken vom Stammtisch kam, prügelte er ihn manchmal grün und blau. Nur Thomas' kleine Schwester war Vaters Liebling. Sie war vier Jahre jünger als Thomas, und obwohl ihr Vater sie bevorzugte, liebte Thomas sie abgöttisch. Thomas' Mutter war eine zierliche Frau, die sich gegen ihren Mann nicht zu wehren wusste und Thomas deshalb nicht beschützen konnte. So lange sich Thomas erinnern konnte, hatte sein Vater immer etwas an ihm auszusetzen gehabt. Worte wie 'Versager' und 'Schwächling' waren noch das harmloseste, was Thomas von ihm zu hören bekam. Dass er schwul war, wusste Thomas bereits seit einigen Jahren. Vor drei Monaten hatte er schließlich in der Stadt einen Jungen kennen gelernt und die beiden hatten sich ineinander verliebt. Stefan, so hieß sein Freund, war ein halbes Jahr älter, machte eine Ausbildung zum Krankenpfleger und wohnte im Personalwohnheim des Krankenhauses. Da er aufgrund des Schichtdienstes tagsüber oft frei hatte, konnten sich die beiden häufig treffen. Irgendwann musste dann ein Stammtischbruder von Thomas' Vater die beiden gesehen haben, wie sie Arm in Arm durch die Stadt gebummelt waren. Im Beisein von Gunther Hübner hatte dieser seine Beobachtungen dann am Stammtisch vor allen Leuten ausposaunt und dabei wohl nicht mit abfälligen Bemerkungen gespart. Als Thomas' Vater an diesem Abend nach Hause gekommen war, hatte Thomas die bis dahin schlimmsten Prügel seines Lebens bezogen. Er hatte zwar alles abgestritten und immer wieder beteuert, dass sich der Saufkumpan seines Vaters geirrt haben musste, aber natürlich hatte er seinen Vater damit nicht überzeugen können. Am nächsten Tag war Thomas dann von zu Hause abgehauen. Anstatt in die Schule zu gehen war er zu Stefan geflüchtet und hatte dort übernachtet. Drei Tage lang war dies gut gegangen, dann hatte sein Vater ihn aufgespürt. Wie ihm das gelungen war, wusste Thomas bis heute nicht. Irgendwann war sein Vater jedenfalls unten vor dem Schwesternwohnheim gestanden und hatte das junge Liebespaar dort in Empfang genommen. Die Szene, die darauf folgte, hatte Thomas immer noch mit Schrecken in Erinnerung. Zuerst war sein Vater auf Stefan losgegangen, hatte ihn übelst beschimpft und ihm angedroht, ihn umzubringen, falls er sich auch nur noch ein einziges Mal an seinen Sohn heranwagen sollte. Eingeschüchtert und mit Tränen in den Augen war Stefan dann irgendwann zurück ins Haus geflüchtet und hatte Thomas dabei völlig hilflos und verzweifelt angesehen. Dann hatte der Metzger seinen Sohn mit Tritten und Schlägen vor sich her zu seinem Auto getrieben und ihn brutal auf den Rücksitz gestoßen. Die nächsten Stunden waren für Thomas dann eine einzige Hölle gewesen. Nachdem sein Vater ihn grün und blau geprügelt hatte, hatte er ihn in sein Zimmer eingesperrt. Thomas hatte sich vor Schmerzen kaum noch bewegen können und sich mit letzter Kraft auf sein Bett geschleppt. Stunden später, mitten in der Nacht, hatte er dann in seiner Verzweiflung versucht, sich mit seinem Taschenmesser die Pulsader am linken Handgelenk aufzuschneiden. Es war wohl bei einem halbherzigen Versuch geblieben. Als sein Vater endlich betrunken eingeschlafen war, hatte seine Mutter nach Thomas gesehen, die Blutlache entdeckt und dann trotz ihrer Panik leise und ohne ihren Mann zu wecken den Notarzt gerufen. Schließlich war er im Krankenhaus gelandet. Neben dem Schnitt am Handgelenk hatte er einen Rippenbruch und zahllose Prellungen und blaue Flecken davongetragen. »Oh Mann, du hast ja ganz schön was durchgemacht«, sagte ich mitfühlend, als Thomas mit seinem Bericht fertig war. Er blickte mich mit traurigen Augen an und zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern, als ob er gerade eben nicht von sich, sondern von jemand anderem erzählt hätte. »Wisst ihr, was am schlimmsten ist?« fragte er nach einer Weile. Kevin und ich sahen ihn achselzuckend an. »Dass Stefan jetzt nichts mehr von mir wissen will.« Bisher hatte er ruhig und gefasst seine Geschichte erzählt, doch bei diesem Satz traten ihm Tränen in die Augen. »Ich war fast eine Woche in dem Krankenhaus, wo er arbeitet. Er ist kein einziges Mal in mein Zimmer gekommen.« Jetzt flossen ihm dicke Tropfen über die Wangen. »Wusste er, dass du dort bist?« wollte ich wissen. Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er leise. »Naja, so wie ihn dein Vater eingeschüchtert hat, hatte er halt einfach Angst«, meinte Kevin. »Hätte ja sein können, dass er deinem Vater in die Arme läuft.« »Hast du nicht versucht, selbst mit ihm Kontakt aufzunehmen?« fragte ich. Thomas schüttelte nur den Kopf. »Du hast ihn seit dem Tag, als dein Vater euch aufgelauert hat, nicht mehr gesehen?« Wieder Kopfschütteln. »Noch nicht mal mit ihm telefoniert?« »Nein«, kam leise als Antwort aus Thomas' Mund. »Hey, woher willst du dann wissen, dass er nichts mehr von dir will?« Diesmal reagierte Thomas mit einem hilflosen Achselzucken. »Was ist eigentlich danach passiert?« wollte Kevin wissen. »Nachdem du aus dem Krankenhaus wieder raus warst. Oder kommst du direkt von dort?« Thomas schüttelte den Kopf. »Nein, ich war bei meiner Oma«, antwortete er. »Vor seiner Mutter hat mein Erzeuger wenigstens Respekt. Bei der hat er nichts zu melden.« In seiner Stimme schwang so etwas wie Hohn mit. »Die hat ihm damals ganz schön den Kopf gewaschen, als er die Metzgerei ruiniert hatte«, fuhr er hämisch grinsend fort. »Da hättet ihr ihn sehen sollen, da wer er so klein mit Hut.« Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine entsprechende Handbewegung. »Naja, meine Mutter und ich haben das dann wieder ausbaden müssen«, fügte er traurig hinzu. »Aber das war's wert.« »Hätte dir deine Oma nicht schon früher helfen können?« fragte ich Thomas. »Ach, die ...«, antwortete er in einem etwas abfälligen Ton. »Die hat sich nie groß um uns gekümmert, hat nur immer an allem rumgemeckert. Aber die ganzen blauen Flecken an meinem Körper scheinen sie dann doch ganz schön schockiert zu haben. Meine Mutter hat dann zu ihr gesagt: 'Nimm Thomas zu dir, vor dir hat Gunther Respekt. Wenn Thomas bei dir ist, tut er ihm nichts.' Irgendwie scheint das gewirkt zu haben.« »Und wie bist du hier in die Klinik gekommen?« wollte ich noch wissen. »Ach, das haben die im Krankenhaus organisiert, schon als ich noch dort war. Irgendwie gibt's wohl 'ne Wartezeit, bis man hier endlich reinkommt. Deswegen musste ich noch zwei Wochen zu meiner Oma. Wenn die Wartezeit nicht gewesen wäre, wäre ich gleich aus dem Krankenhaus hierher gekommen.« »Ja, das mit der Wartezeit war bei mir auch so«, antwortete ich. »Und warum warst du dann nicht schon am Dienstag da?«, fragte Kevin. »Daran ist wieder mein Vater schuld«, antwortete Thomas. »Ich bin ja noch bei ihm mit krankenversichert. Er hat wohl bei der Krankenkasse Terror gemacht, damit die das hier nicht bezahlen. Irgendwann haben die dann bei meiner Oma angerufen und gesagt, dass sie die Kosten nicht übernehmen. Dann haben wir wieder dem Arzt aus dem Krankenhaus Bescheid gesagt und der hat das dann doch noch irgendwie geregelt. Fragt mich nicht, was da genau gelaufen ist. Ich weiß nur, dass am Donnerstag jemand angerufen hat und meiner Oma gesagt hat, dass ich jetzt doch noch kommen kann.« Jetzt kannten wir also den Grund für Thomas' Verspätung. Und auch ansonsten hatten wir einiges über ihn erfahren.
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