Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 10 - Turbulenzen

Bereits am nächsten Tag wurde ich eines besseren belehrt. Nach der Gruppensitzung wollten wir Sechs einen kurzen Spaziergang machen. Thomas musste schließlich ab und zu ohnehin mal raus, um eine zu rauchen. Die Aufenthaltsräume für Nikotinabhängige waren nicht sonderlich gemütlich, schon gar nicht für Nichtraucher. Wir holten also nur schnell unsere Jacken aus den Zimmern und verließen das Gebäude dann durch den Haupteingang, um mal die Gegend auf dieser Seite der Klinik genauer zu erkunden. Als wir so über den Parkplatz schlenderten, blieb Thomas plötzlich stehen.

»Wartet mal kurz!« forderte er uns auf.

Er blickte angestrengt hinüber zu den Parkbuchten, die eine oder zwei Reihen weiter zu unserer Rechten lagen. Ich konnte nicht genau abschätzen, was er da genau begutachtete, aber irgendetwas Interessantes musste er wohl entdeckt haben. Er lief langsam an den geparkten Autos entlang und blieb schließlich vor einem davon wie angewurzelt stehen.

»Scheiße!« schrie er plötzlich laut. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

»Was hat er denn?« wollte Gudrun wissen.

»Keine Ahnung, besser wir gehen mal zu ihm rüber«, antwortete ich.

Als wir uns Thomas näherten, blickte er uns an. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Angst.

»Was ist los, Thomas?« fragte Kevin.

»Das Auto da! Das gehört meinem Vater!«

Er deutete auf einen alten, schon etwas verrosteten Opel.

»Bist du sicher?«

»Ja klar, ich werd ja wohl noch unser Auto kennen.«

»Naja, vielleicht ist ja deine Mutter mit deiner Schwester hier. Kann ja sein, dass die beiden dich besuchen wollen, oder?«

»Meine Mutter? Die hat noch nicht mal 'nen Führerschein!«

Thomas war nun völlig außer sich.

»Das kann nur mein Vater sein! Was will der hier? Kann der mich nicht endlich in Ruhe lassen?«

Wir blickten uns um. Außer uns war niemand auf dem Parkplatz zu sehen, und der Opel war leer und verschlossen.

»Verdammt, was will der hier?« wiederholte Thomas noch einmal. »Und wo ist der jetzt?«

Er drehte sich im Kreis und schaute in alle Richtungen, fast so, als ob er erwartete, dass sein Vater plötzlich hinter ihm aus dem Nichts auftauchen würde. Kevin legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Hey, ganz ruhig! Dir passiert schon nichts. Wir sind auch noch da.«

»Und wenn er gerade beim Chefarzt ist, um mich hier wieder ... abzumelden?«

»Ich schätze mal, da wird er keinen Erfolg haben, schließlich bist du ja sowieso gegen seinen Willen hier, oder?«

»Keine Ahnung! Ich bin schließlich noch keine 18. Und er ist immer noch mein Erziehungsberechtigter!«

»Ach, ich glaub nicht, dass die dich so einfach mit ihm mitgehen lassen. Schließlich wissen die doch, was er mit dir angestellt hat«, versuchte ich Thomas zu beruhigen.

»Eigentlich dürfte der Typ gar nicht mehr das Sorgerecht für dich haben, so wie der dich verprügelt hat«, schaltete sich Gudrun ein. »Hast du überhaupt keine Ahnung, ob da nicht doch irgendwas mit dem Jugendamt gelaufen ist, oder so?«

Thomas schüttelte den Kopf. Langsam schien er sich wieder etwas zu beruhigen.

»Was sollen wir jetzt machen?« fragte er mit verzweifelter Stimme.

»Weiß ich auch nicht so genau. Auf jeden Fall bleiben wir jetzt alle bei dir. Gemeinsam schaffen wir das schon«, antwortete Kevin. So richtig wussten wir wohl alle nicht, was nun als nächstes passieren sollte.

»Gehen wir erst mal wieder rein«, schlug ich vor.

Als wir uns umdrehten und gerade zurück laufen wollten, fiel mein Blick auf den Klinikeingang. Wir waren zwar mindestens 50 Meter davon entfernt, aber wir standen momentan an einer Position, an der keine Bäume oder Büsche den Blick auf den Eingangsbereich versperrten.

Gerade öffnete sich die Schwingtüre und ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem Stiernacken trat ins Freie. Nach Thomas' Beschreibung konnte das eigentlich nur Gunther Hübner sein, der uns da entgegenkam.

»Scheiße!«, schrie Thomas auch gleich auf. »Das ist er!«

»Bleib ganz dicht bei uns, Thomas! Gegen uns Sechs kann er nichts ausrichten.«

Ich hoffte, dass ich damit Recht hatte. So wie dieser Typ aussah, konnte ich es mir durchaus vorstellen, dass er es auch mit uns allen aufnehmen würde. Und ob die Mädchen wirklich helfen konnten, falls es wirklich zum Äußersten kam, wagte ich zu bezweifeln. Naja, wenn man einmal von Gudrun absah. Der traute ich in dieser Hinsicht eigentlich schon was zu. Sie konnte ja ziemlich resolut sein.

»Scheiße, das ist wieder genau so, wie vor ein paar Wochen bei Stefan vorm Wohnheim. Da stand er auch auf einmal vor uns!«

Thomas war wieder richtig in Panik.

»Hey, diesmal kommt er damit nicht so einfach durch.«

Wenn ich mir da doch nur etwas sicherer gewesen wäre! Während wir wie angewurzelt stehen blieben, kam Thomas' Vater immer näher auf uns zu. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien er sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

»Da renn ich doch eine halbe Stunde durch das ganze Gebäude hier und suche dich überall ...«, fing er an zu sprechen, als er sich uns so weit genähert hatte, dass wir ihn verstehen konnten.

»... und dann seh ich da oben aus dem Fenster ...«

Er drehte sich ganz gelassen um und deutete auf die Fenster des Treppenhauses am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln.

»... und was seh ich da? Meinen Herrn Sohn, wie er gemütlich über den Parkplatz spaziert.«

Gunther Hübners Stimme war ruhig, fast freundlich. Wenn Thomas uns nicht schon längst erzählt hätte, was für ein Mistkerl das in Wirklichkeit war, hätte ich geglaubt, dass er einfach nur seinen Sohn besuchen wollte, um mal ein paar nette Worte mit ihm zu reden. Ein paar Meter vor uns blieb er stehen und musterte uns der Reihe nach. Ich sah ihn mir ebenfalls etwas genauer an, natürlich ganz vorsichtig, ohne ihn offen anzustarren. Schließlich wollte ich ihn nicht ausgerechnet auf mich aufmerksam machen. Thomas hatte so gar keine Ähnlichkeit mit diesem Typen. Ich konnte es kaum glauben, dass dieser Ochse von einem Mann Thomas' Vater sein sollte. Anscheinend hatte Thomas den Großteil seiner Erbanlagen von seiner Mutter abbekommen. War wohl auch besser so!

»Na, da hast du ja schon ein paar feine neue Freunde gefunden!« sagte der Metzgermeister nach einer Weile und sah dabei vor allem Nadine ausgesprochen geringschätzig an.

Dann betrachtete er Kevin und mich.

»Und ihr zwei? Seid ihr auch solche jämmerliche Schwuchteln wie mein missratener Sohnemann? Oder wisst ihr vielleicht gar nicht, dass ihr euch da mit einem armseligen Schwanzlutscher eingelassen habt, der nichts besseres zu tun hat, als seine eigene Familie in den Dreck zu ziehen?«

Inzwischen war Herrn Hübner die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Noch ehe einer von uns etwas antworten konnte, polterte er weiter: »Wegen dir habe ich jetzt eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir das einfach so von dir gefallen lasse?«

»Hau ab! Verschwinde!« platzte es schließlich aus Thomas heraus. »Was willst du hier? Ich hab dich nicht angezeigt!«

»Aber du hast mit den Bullen geredet und denen vorgelogen, dass ich dich angeblich halb tot geschlagen habe!«

»Ich hab denen nur die Wahrheit erzählt!«

»Ach, ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet! Und du hast eine Tracht Prügel ja wohl dringend nötig! Reicht es denn noch nicht, dass du so ein kümmerlicher Schwächling bist? Muss ich mich wegen dir jetzt auch noch überall verspotten lassen? Dass mein Sohn so ein Perversling ist, der's lieber mit jungen Burschen treibt, weil er sich an die Weiber nicht rantraut?«

Ich fühlte mich ziemlich hilflos. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Irgendwelche Diskussionsversuche mit diesem Mann waren wohl ohnehin zwecklos. So starrten wir Herrn Hübner einfach nur entsetzt an.

»Was willst du von mir? Warum bist du hier?« schrie Thomas seinen Vater an.

»Du kommst jetzt erst mal mit mir nach Hause, und dann zieh ich andere Saiten auf! Das wär ja noch schöner, wenn du auch hier noch lauter Lügen über deine Familie verbreitest.«

Gudrun war die erste, die zumindest eine Idee zu haben schien, wie wir mit der Situation umgehen konnten.

»Nadine!«, flüsterte sie. »Nimm Christina mit und lauf da außen rum zum Eingang zurück. Da kann er euch nicht aufhalten, ohne dass wir selbst an ihm vorbeikommen. Sagt drinnen Bescheid, dass wir hier ein Problem haben. Die sollen die Polizei rufen!«

Das mit der Polizei schien Herr Hübner mitbekommen zu haben.

»Polizei?« schrie er plötzlich. »Ihr wollt die Polizei holen? Na dann geht mal! Ich werd ja wohl noch meinen eigenen Sohn mitnehmen können, wann's mir passt. Da wird mich auch die Polizei nicht dran hindern!«

»Lauft los!« forderte Gudrun die beiden anderen Mädchen nochmals auf.

Diese gehorchten und liefen die Parkreihe zurück, aus der wir gerade gekommen waren, um dann über den Parallelweg zum Klinikeingang zu gelangen. Währenddessen hielt uns Thomas' Vater weiter in Schach. Irgendwie schien ihn unser Vorgehen aber doch ein wenig verunsichert zu haben. Anscheinend hatte er erwartet, dass er mit uns leichtes Spiel haben würde und dass wir ihm Thomas mehr oder weniger widerstandslos überlassen würden. Dass er hier auf Leute traf, die sich für seinen Sohn einsetzten, schien ihn zu überraschen.

»Los! Du kommst jetzt sofort mit mir mit, sonst gibt's Ärger«, rief er seinem Sohn noch einmal zu. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher. Näher an uns heran schien er sich auch nicht zu trauen. Schließlich waren wir ja immer noch zu viert.

Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und rief ihm zu: »Sie müssen schon uns alle fertig machen, wenn Sie Thomas mitnehmen wollen!«

Gunther Hübner runzelte die Stirn.

»Was wollt ihr denn mit diesem nichtsnutzigen Schwächling? Was hat der euch für Lügen erzählt? Der lügt doch, wenn er nur sein Maul aufmacht. Glaubt dem bloß kein Wort!«

»Wir wissen, dass Sie ihn ständig verprügelt haben!« erwiderte Kevin wütend.

»Ach, die paar Ohrfeigen! Der hat's doch nicht anders verdient. Schaut ihn euch doch an, diesen jämmerlichen Schwanzlutscher!«

»Sie sollten besser Ihr Maul halten!« schrie ich zurück. »Ich bin auch einer von diesen ..., diesen ... Schwanzlutschern!«

Puh, dieses Wort kam aber schwer über meine Lippen. Naja, so was gehörte eigentlich auch nicht zu meinem Wortschatz. Und streng genommen war das ja auch nicht unbedingt die Wahrheit, schließlich hatte ich bisher noch nie das Vergnügen gehabt, an einem Schwanz lutschen zu dürfen. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob das überhaupt so ein Vergnügen für mich wäre. Noch ehe ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, polterte Thomas' Vater wieder los.

»Ach! Deswegen setzt du dich so für ihn ein!« rief er mir zu. »Na, wenn die Klinikleitung erst einmal erfährt, welche perversen Spielchen ihr hier treibt, wirst du auch noch ganz schön Ärger bekommen. Oder was ist das hier für 'ne Scheißklinik?«

Inzwischen war am Haupteingang so einiges los. Ein paar Personen blickten zu uns herüber. Die nette Dame, die hinter der Rezeption arbeitete, kam auf uns zu. Nadine und Christina folgten ihr in ein paar Metern Abstand. Und dann war da auf einmal auch Frau Fröschl, die zu uns herüber eilte. Sie hatte ihren Mantel an und trug eine Tasche über der Schulter. Anscheinend hatten Nadine und Christina sie gerade abgepasst, als sie Feierabend machen wollte.

»Was ist los?« rief sie uns bereits aus einiger Entfernung zu.

»Das ist Thomas' Vater. Der will Thomas mitnehmen!« schrie ich zu ihr hinüber.

Herr Hübner blickte nach hinten über die Schulter, um zu sehen, wer da auf einmal auf ihn zukam. Seine Selbstsicherheit schien einen weiteren Knacks bekommen zu haben. So langsam bekam ich den Eindruck, der Typ fühlte sich nur aufgrund seines Körperbaus so stark und war in Wirklichkeit ein jämmerlicher Feigling.

»Sie sind Herr Hübner?« fragte Frau Fröschl ganz ruhig und gelassen.

»Ja, der bin ich. Ich bin gekommen, um meinen Sohn abzuholen. Das hier ist nichts für ihn. Der braucht eine harte Hand, hier wird er ja noch völlig verweichlicht.«

»So einfach geht das nicht«, erwiderte unsere Psychologin immer noch in ruhigem Ton. »Im Moment hat das Jugendamt für Thomas das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das sollten Sie eigentlich wissen! Bevor Sie Thomas hier herausholen können, müssen Sie sich zuerst an das Jugendamt wenden. Und die werden Ihnen kaum behilflich sein. Schon gar nicht nach dieser Aktion hier!«

Inzwischen waren auch der Chefarzt und zwei andere Männer zu uns herübergekommen. Einer davon war dieser Dr. Friedrichs.

»Was geht hier vor?« wollte Dr. Höfling wissen.

Frau Fröschl erklärte ihm kurz die Lage.

»Verlassen Sie bitte sofort das Grundstück«, forderte der Chefarzt schließlich Thomas' Vater auf. »Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, lasse ich die Polizei rufen!«

»Was?« entfuhr es Herrn Hübner. »Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!«

Dass sich die Situation so entwickelte, schien er nicht erwartet zu haben. Mit einem nervös zitternden Finger deutete er auf Thomas und mich.

»Wissen Sie eigentlich, was diese beiden Schwulen hier in Ihrer Klinik so alles treiben?«

Dr. Höfling schien keinen Moment beeindruckt zu sein.

»Sie sollten jetzt wirklich besser verschwinden«, sagte er noch einmal.

Herr Hübner schien einzusehen, dass er verloren hatte. Nicht ohne Thomas noch einmal grimmig mit der Faust zu drohen, lief er zurück zu seinem Auto. Eine Minute später war er verschwunden.

Thomas war völlig durch den Wind. Verstört und zitternd stand er herum. Kevin und ich versuchten ihn zu beruhigen, indem wir ihm gut zuredeten. Gudrun versuchte es mit einer Umarmung, aber im Moment schien ihm das alles nicht zu helfen.

»Kommen Sie erst mal mit mir mit«, sagte schließlich Frau Fröschl mitfühlend zu ihm. »Wir reden eine Weile miteinander, okay?«

Thomas nickte. Wir liefen jetzt alle zurück in die Klinik. Während Frau Fröschl mit Thomas verschwand, stellte der Chef höchstpersönlich sicher, dass mit uns anderen alles in Ordnung war. Nachdem wir uns noch eine Weile in der Halle über den Vorfall unterhalten hatten, verschwanden wir auf unseren Zimmern. Bis zum Abendessen war noch eine knappe Stunde Zeit.

Als wir so auf unseren Betten lagen und noch einmal über das Geschehen auf dem Parkplatz redeten, kam Kevin plötzlich auf meinen Wutausbruch zu sprechen.

»Als du dem Typen zugerufen hast, dass du auch so ein Schwanzlutscher bist, ... naja, da bist du ganz schön rot dabei geworden.«

Ich druckste ein wenig herum.

»Naja, ... äh ... eigentlich, also eigentlich ... äh ... hab ich ja auch noch ... noch nie, naja, du weißt schon.«

»Ja, ist mir schon klar, dass du noch nie Sex mit 'nem Kerl hattest.«

»Hab ich dir aber bisher noch nie so direkt erzählt«, antwortete ich kleinlaut.

»Hey, ich kenn dich doch inzwischen gut genug, um das zu wissen!«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern.

»Hey, schämst du dich eigentlich wegen allem, was mit deiner Sexualität zusammenhängt?« fragte Kevin mich nach einer Weile.

Musste er immer solche Fragen stellen? Wieder erntete er als Antwort nur ein Schulterzucken.

»Mann, ist doch nichts dabei, dass du noch Jungfrau bist!«

»Wenn du das sagst.«

»Ja, ist doch auch so!«

»Und, wie ist das bei dir?« wollte ich schließlich zögerlich wissen.

»Naja, bis vor 'nem halben Jahr hatte ich 'ne Freundin. Ist dann irgendwie wieder zu Ende gegangen. Noch bevor Marco den Unfall hatte.«

»Und, hattet ihr Sex miteinander?«

»Ja.«

»Siehst du? Und ich hab noch nicht mal 'nen anderen Jungen geküsst. Bei mir war da bisher noch gar nichts!«

»Na und? Ist doch auch nicht schlimm, irgendwann findest du schon den Richtigen. Für Schwule ist das halt nicht so einfach, jemanden zu finden, wie bei uns Heteros. Das wird schon. Du bist ja schließlich nicht gerade hässlich, oder? Und ansonsten kann man's echt mit dir aushalten!«

Der letzte Satz war wohl als Kompliment gemeint. So fasste ich das auf jeden Fall auf.

»Ja, das isses eigentlich auch gar nicht. Aber irgendwie, ... also irgendwie ...«

Ich machte eine Pause.

»Los, sag schon«, forderte mich Kevin auf. Seine Stimme klang ziemlich einfühlsam. So, als ob er genau wusste, dass es mir besser gehen würde, wenn ich das alles erst mal ausgesprochen hatte.

Ich drehte mich auf die Seite, so dass ich Kevins Reaktion nicht sehen musste, während ich ihm mein Gefühlsleben beichtete. Dann redete ich weiter.

»Ich weiß noch nicht mal, ob ich mit 'nem Jungen überhaupt so richtig Sex haben will! Du weißt schon, das was Schwule eben normalerweise so machen ... dem anderen einen blasen ... und Analverkehr und so.«

Ich machte eine kurze Pause, bevor ich weiterredete, diesmal leiser. Gerade so laut, dass Kevin es hören konnte.

»Eigentlich brauch ich nur jemanden, der mich liebt, der mich in den Arm nimmt und mit dem ich Kuscheln kann und so.«

Ich hatte mal wieder Tränen in den Augen. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass ich hier inzwischen genug geheult hatte. Scheinbar hatte ich mich da mal wieder geirrt.

»Hey, ist doch in Ordnung!« hörte ich Kevins Stimme plötzlich dicht hinter mir. Seine Hand berührte meine Schulter. Ich schluchzte.

»Verdammt, muss denn bei mir alles anders sein? Kann ich noch nicht mal normal schwul sein?«

Kevins Hand streichelte meine Schulter, während ich das Kopfkissen durchnässte.

»Du bist eben so wie du bist«, sagte Kevin leise hinter mir. Eine dümmere Antwort war ihm wohl nicht eingefallen! Aber was sollte er auch sonst sagen?

»Schäm dich deswegen doch nicht!«

Naja, das hörte sich schon besser an. Trotzdem schluchzte ich unkontrolliert weiter.

»Warum stehst du nicht einfach dazu?«

»Da bin ich ja wohl grade dabei, oder warum erzähl ich dir das wohl alles?« brachte ich mühsam heraus. Ein wenig Sarkasmus meinerseits tat jetzt ganz gut, sonst wäre ich Kevin wohl noch heulend um die Arme gefallen. Und das wäre jetzt einfach das falsche Signal von mir gewesen. Schließlich wusste ich ganz genau, dass er nicht das für mich empfand, was ich immer noch für ihn fühlte. Ich wollte ihm auf keinen Fall das Gefühl geben, dass ich ihn als meinen Boyfriend haben wollte. Damit würde er wohl kaum umgehen können. Ich fragte mich sowieso, warum er hier den Psychologen für mich spielte. Außerdem hatte ich mich inzwischen ja tatsächlich längst damit abgefunden, dass wir beide niemals mehr als brüderliche Freunde sein würden.

So blieb ich einfach noch eine Weile liegen und durchnässte weiter mein Kopfkissen, während mir Kevin sanft durchs Haar strich und mich zu beruhigen versuchte.

»Hey, du findest schon noch den passenden Freund. Dann könnt ihr das Ganze zusammen ganz behutsam angehen. Es soll schließlich auch noch andere Typen geben, die nicht nur auf Sex aus sind.«

Irgendwann hatte ich mich dann wieder unter Kontrolle und wischte mir die Tränen ab.

»Scheiße! Tut mir echt leid, dass ich hier so rumheule«, sagte ich, als ich mich aufrichtete und mich dann neben Kevin auf die Bettkante setzte. Der hatte wohl schon vor einer ganzen Weile hinter meinem Rücken Platz genommen.

»Hey, das musste eben mal aus dir raus.«

»Naja, ich will aber nicht, dass du jetzt denkst, dass ich ... mit dir ..., naja, du weißt schon.«

Das musste ich jetzt endlich mal klarstellen.

Es dauerte eine Weile, bis Kevin reagierte.

»David, sorry, ich bin echt immer für dich da ... auch wenn wir hier wieder raus sind ... aber mehr, ... mehr darfst du von mir ...«

Ich nickte, so dass er das 'nicht erwarten' erst gar nicht mehr aussprechen musste. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, mir das jetzt mitzuteilen. Obwohl es weh tat, war ich froh, dass diese Sache zwischen uns nun ein für alle mal klar war.

Kevin klopfte mir noch einmal auf die Schulter und stand dann auf.

»Ist langsam Zeit für's Abendessen«, meinte er.

»Oh Mann, ich seh sicher ziemlich verheult aus.«

Ich sah im Bad in den Spiegel. Meine Augen waren ganz schön rot.

»Wir können auch erst später runter gehen«, schlug Kevin vor.

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür. Wer auch immer das war, ich wollte nicht, dass mich jemand so sah. Auf neugierige Fragen hatte ich jetzt wirklich keine Lust.

Während ich mich wieder auf mein Bett verzog, öffnete Kevin die Türe. Es war Thomas.

»Geht's dir wieder einigermaßen?« wollte Kevin sofort von ihm wissen.

Naja, Thomas hatte heute weit schlimmeres durchgemacht als ich. Was kümmerte es mich also, ob er mich jetzt so verheult sah oder nicht?

»Bring ihn mit rein, Kevin!« rief ich deshalb um die Ecke zur Tür.

Sofort als er eintrat stellte ich fest, dass Thomas auch nicht besser aussah als ich selbst. Er schien auch überhaupt nicht zu bemerken, dass ich ebenfalls geweint hatte.

»Ich war so lange bei der Fröschl«, berichtete er uns. »Die is echt gut! Auch wenn ich fast die ganze Zeit über geheult hab und deswegen nicht alles mitbekommen hab, was sie so gesagt hat.«

Ja, unsere Psychologin hatte heute auch bei mir sämtliche Sympathiepunkte, die sie in der Zwischenzeit einmal verloren hatte, wieder mehr als gutgemacht. Ihre Aktion da draußen hatte mich ganz schön beeindruckt. So ruhig, wie die geblieben war, während mir gewaltig die Knie geschlottert hatten!

Thomas erzählte ein wenig von dem, was im Zimmer von Frau Fröschl abgelaufen war. Sie hatte ihm klargemacht, dass sein Vater im Moment nicht über seinen Aufenthaltsort bestimmen durfte und dass auch keine Aussicht darauf bestand, dass dies noch einmal der Fall sein würde. Schließlich würde Thomas ja ohnehin bald 18 werden. Sie hatte für ihn einen ersten Gesprächstermin mit der Sozialarbeiterin der Klinik vereinbart. Die würde dann regeln, wie es für Thomas nach dem Klinikaufenthalt weitergehen sollte.

»Hat sie was gesagt wegen ..., naja, wegen den Sexorgien die ihr beide hier angeblich veranstaltet?« wollte Kevin irgendwann wissen.

An diese Anschuldigung von Thomas' Vater hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.

Thomas nickte.

»Sie hat gesagt, ich soll das ganz schnell wieder vergessen.«

»Die hat eben inzwischen auch schon gemerkt, was für ein verklemmter Typ ich bin«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln.

Die Bemerkung konnte ich mir einfach nicht verkneifen, auch wenn ich von Thomas irritierte Blicke erntete.

Kevin grinste mich an. Dadurch guckte Thomas noch verwirrter. Jetzt konnte ich das Lachen nicht mehr zurückhalten und prustete los. Wenn wir drei hier zusammen im Zimmer waren, schien es immer was zum Lachen zu geben. Sollten wir vielleicht öfters machen?

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