Kapitel 15 - Daniel Am nächsten Morgen tauchte Daniel nicht zum Frühstück im Speisesaal auf. Die restlichen Mitglieder seiner Gruppe trudelten hingegen einzeln oder in Zweiergrüppchen ein, nachdem sie die Eingangsuntersuchung in der medizinischen Zentrale hinter sich gebracht hatten. Vielleicht war Daniel durch die ungewohnte Umgebung ja der Appetit vergangen? Oder er war auch so ein Typ wie ich, der morgens ganz gut ohne Marmeladenbrötchen und Koffeinschock auf Touren kam. Es half auch nichts, dass ich sitzen blieb, bis sich der Speisesaal fast vollständig geleert hatte. Daniel blieb erst einmal verschollen. Missmutig verließ ich zusammen mit den letzten Frühstücksgästen den Raum. Das Personal war schon dabei, das Büffet abzuräumen. Wenn Daniel jetzt noch kam, würde er sowieso nichts mehr zu essen bekommen. Anstatt direkt mit dem Aufzug hoch ins Zimmer zu fahren, schlenderte ich noch eine Weile durch die Gänge der Klinik in der naiven Hoffnung, irgendwo auf diesen süßen Boy zu stoßen, der mich am Tag zuvor so in den Bann gezogen hatte. Natürlich war diese Aktion genauso wenig von Erfolg gekrönt, wie die Warterei im Speisesaal. Schließlich kam ich dann doch wieder im Zimmer an. Allerdings hielt ich es dort nicht lange aus. Irgendwie war ich viel zu unruhig und nervös. Wenn wenigstens Kevin hier gewesen wäre, aber der hatte wieder einen Termin bei seinem Maltherapeuten. Nachdem ich eine Weile aus dem Fenster gestarrt hatte, schloss ich das Zimmer wieder ab und kehrte in die Eingangshalle zurück. Ich setzte mich an eine leere Sitzgruppe und blätterte mich durch die diversen Zeitschriften, die auf dem Tisch vor mir herumlagen. So langsam kannte ich die zwar alle schon, aber einfach nur untätig herumzusitzen fand ich dann doch zu öde. Immer wieder schielte ich zum Aufzug und zur Treppe hinüber. Es konnte schließlich sein, dass Daniel doch einmal hier vorbeischaute. Und irgendwann geschah dann tatsächlich das, worauf ich schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Die Fahrstuhltüre öffnete sich und Daniel trat heraus. Er trug verwaschene blaue Jeans und den beige-braunen Kapuzenpulli, den er schon am Tag zuvor angehabt hatte. Unschlüssig sah er nach links und rechts, dann blickte er scheu zu mir herüber. Ich lächelte ihm zu und hob kurz die Hand zum Gruß. Zögerlich kam er auf mich zu und nahm sich dabei die Ohrhörer seines Walkmans ab. Zwischen den beiden Sesseln auf der anderen Seite des Tisches blieb er stehen. »Hi!« begrüßte er mich. »Hast du jemanden aus meiner Gruppe hier unten gesehen?« Seine Stimme klang ein wenig schüchtern. »Nö, seit dem Frühstück niemanden mehr«, antwortete ich. »Oh, ach so. Das Frühstück hab ich leider verpasst«, erklärte er mir. »Ich war da gerade bei unserem Psychologen zu diesem Erstgespräch oder wie das heißt. Die anderen waren wohl alle unten?« Er deutete mit dem Finger in Richtung Speisesaal. »Ich glaube schon«, antwortete ich schulterzuckend und mit gespielter Gleichgültigkeit. In Wirklichkeit war ich mir natürlich absolut sicher, dass alle außer ihm gefrühstückt hatten, schließlich hatte ich jeden einzelnen aus seiner Gruppe kommen und wieder gehen sehen. Ich konnte ihm aber schlecht erzählen, dass ich nur wegen ihm eine geschlagene Stunde im Speisesaal verbracht hatte und in dieser Zeit die Geschehnisse am Tisch seiner Gruppe genauestens beobachtet hatte. Unter Zuhilfenahme meines äußerst bescheidenen Schauspieltalents tat ich daher so, als ob ich die Ereignisse im Speisesaal noch einmal vor meinem geistigen Auge Revue passieren lassen musste, bevor ich ihm eine endgültige Antwort geben konnte. »So vier, fünf Leute aus deiner Gruppe hab ich heute jedenfalls schon gesehen«, sagte ich schließlich. Gleichzeitig fragte ich mich, warum es der Psychologe so eilig gehabt hatte, mit Daniel zu reden. Irgendwie machte mich das noch neugieriger als ich ohnehin schon war. Ich brannte richtig darauf, endlich mehr über Daniel zu erfahren. »Hast du 'ne Ahnung, wo die jetzt alle sind?« wollte Daniel dann von mir wissen. »Wahrscheinlich auf ihren Zimmern, nehm ich mal an. Zumindest hab ich nicht gesehen, dass die gemeinsam irgendwo hin gegangen wären.« Wieder blickte Daniel sich um. Anscheinend wusste er nicht so recht, was er jetzt tun sollte. Wenn man ein Einzelzimmer hatte und dadurch nicht ständig in Kontakt mit wenigstens einem der anderen Gruppenmitglieder war, konnte man sich hier am Anfang schon etwas verloren vorkommen. Und genau diesen Eindruck machte Daniel im Moment auf mich. »Warum bleibst du nicht hier unten?« schlug ich ihm vor. »Vielleicht taucht ja noch jemand aus deiner Gruppe hier auf.« Er zuckte unschlüssig mit den Schultern und schien trotz meiner Aufforderung eigentlich lieber wieder gehen zu wollen. Nach einem Moment des Zögerns ließ er sich dann aber doch mir gegenüber in einen Sessel fallen. »Ich bin übrigens David«, sagte ich zu ihm. »Daniel«, antwortete er und streckte mir die Hand entgegen. Naja, seinen Namen kannte ich ja schon. Dann setzte Schweigen ein. Worüber hätten wir auch reden sollen? Natürlich hätte ich ihn fragen können, warum er hier war. Das interessierte mich schließlich brennend. Allerdings erschien mir diese Frage dann doch etwas zu aufdringlich. Außerdem wusste ich ja nicht, ob er überhaupt Lust hatte, darüber zu reden oder ob ihm das nicht sogar ziemlich unangenehm war. Ich wollte ihn ja nicht gleich wieder vertreiben. Also sah ich ihm nur dabei zu, wie er den Zeitschriftenstapel nach irgendeinem Magazin durchstöberte, das ihn interessierte. Nach einer Weile schien er etwas Passendes gefunden zu haben und lümmelte sich damit in den Sessel. Bevor er die Zeitung aufschlug, griff er noch nach den Ohrhörern seines Walkmans, um sich diese wieder in die Ohren zu stecken. »Was hörst du da?« fragte ich ihn gerade noch rechtzeitig, bevor die Musik meine Stimme übertönt hätte. »Sigur Rós. Weiß nicht, ob du die kennst. Wahrscheinlich nicht, oder?« »Stimmt«, musste ich zugeben und zuckte verlegen mit den Schultern. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn er gerade eine CD von einer meiner Lieblingsbands im Player gehabt hätte. »Ist so 'ne Band aus Island«, erklärte er. »Die machen ziemlich ungewöhnliche Musik. Ich glaub jedenfalls nicht, dass die damit in die Charts kommen. Ich kenn die auch noch nicht lange. Die CD hat mir'n Freund geschenkt. Hab mich am Anfang gefragt, was er sich dabei gedacht hat, aber inzwischen find ich die richtig genial.« »Ah ja«, antwortete ich knapp. Eigentlich hatte ich überhaupt nicht richtig mitbekommen, was er zuletzt gesagt hatte. Dafür klang mir sein vorletzter Satz noch zu deutlich im Ohr. Hatte er nun 'mein Freund' oder 'ein Freund' gesagt? Ich war mir nicht sicher. Ersteres würde ja zumindest andeuten, dass er schwul war. Das für sich allein gesehen wäre zwar eine erfreuliche Neuigkeit. Es würde aber auch bedeuten, dass er bereits in festen Händen war, was weniger gut wäre. Naja, für ihn wohl schon. Nur eben nicht für mich. Vielleicht sollte ich es besser unterlassen, gleich aus seinen ersten Sätzen seine sexuelle Orientierung herauslesen zu wollen. Wahrscheinlich hatte er ja nur gemeint, dass er die CD von irgendeinem seiner Freunde geschenkt bekommen hatte, egal ob er nun 'ein' oder 'mein' gesagt hatte. Schließlich outete man sich nicht mal so nebenbei als schwul. Immerhin war die CD kein Geschenk von seiner Freundin, was natürlich auch nicht bedeutete, dass er keine hatte. »Willst du mal reinhören?«, wollte er nach einer Weile wissen. Nur langsam wurde mir bewusst, dass ich ihn gerade geistesabwesend anstarrte. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich meine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle und eine adäquate Antwort parat hatte. »Hä? Was?« stammelte ich und hätte mir aufgrund dieser verbalen Entgleisung noch im selben Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. »Ob du dir das mal anhören willst?« wiederholte er seine Frage und hielt mir den Kopfhörer entgegen. »Ach so, ja, gerne«, entgegnete ich. Im Moment machte ich wohl nicht den besten Eindruck auf ihn, denn er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dadurch bekam ich aber wenigstens einmal seine makellosen, strahlend weißen Zähne zu sehen. Entweder hatte Mutter Natur diese bereits so perfekt geformt und nebeneinander aufgereiht, oder Daniel hatte eine erfolgreiche kieferorthopädische Behandlung hinter sich. Ich wechselte auf den Sessel neben ihm, nahm ihm die Ohrhörer ab und brachte es auf Anhieb fertig, sie dahinein zu stecken, wohin sie gehörten. »Und gefällt's dir?«, wollte Daniel wissen, als ich sie ihm nach einiger Zeit wieder zurückreichte. »Ja, nicht schlecht.« »Hast du auch 'nen Discman dabei?« »Nee, wieso?« »Dann könnte ich dir die CD ja mal leihen. Naja, wenn wir noch länger miteinander hier in der Klinik sind, meine ich.« »Also 'ne Weile bin ich schon noch hier«, antwortete ich. Hatte er das überhaupt wissen wollen? Ich war mir nicht sicher, wie ich seine letzten Worte interpretieren sollte. Wollte er damit etwa andeuten, dass er vielleicht nicht lange hier bleiben würde? Schließlich waren ja auch bei uns zwei Personen wieder abgereist, weil es ihnen hier nicht gefallen hatte. Er schien ja noch nicht viel Kontakt zu den anderen Mitgliedern seiner Gruppe zu haben. Möglicherweise dachte er ja deswegen darüber nach, schnell wieder von hier zu verschwinden. »Naja, wenn du keinen Discman hast, könnte ich dir den ja auch noch leihen. Die paar CDs, die ich dabei hab werden eh bald langweilig. Dann liegt das Ding sowieso nur noch nutzlos rum.« »Hey, danke! Ist echt nett von dir. Du kannst dafür ein paar Bücher von mir haben, wenn du willst. Ich hab 'nen ganzen Stapel dabei und noch keins davon gelesen.« »Bücher hab ich glaub ich selber genug mitgebracht. Aber falls ich die tatsächlich irgendwann alle durch habe, dann komm ich drauf zurück.« »Okay, sag dann einfach Bescheid. Auch wenn du sonst irgendwas brauchst, okay? Und wenn dir mal langweilig ist oder so, könnten wir auch mal was gemeinsam unternehmen.« »Ja, gerne.« Daniel wirkte inzwischen deutlich lockerer. Naja, am Anfang unseres Aufeinandertreffens war ich ja auch nicht gerade unverkrampft gewesen. Inzwischen schien das Eis zwischen uns aber schon ein bisschen gebrochen zu sein. Vielleicht sorgte unsere Unterhaltung ja sogar dafür, dass er sich hier wohler fühlte. Zumindest hoffte ich das. Falls es Daniel in der Klinik wirklich nicht gefiel, musste ich alles tun, um das zu ändern. Er durfte nicht einfach wieder aus meinem Leben verschwinden. »Wie spät ist es eigentlich?« wollte Daniel dann auf einmal wissen. »Zwei Minuten vor halb Elf. Hast du keine Uhr?« »Nee, irgendwie vertrag ich seit 'ner Weile das Armband nicht mehr. Ich krieg dann immer so 'nen komischen Ausschlag am Handgelenk. Naja, deswegen hab ich in letzter Zeit eben nie 'ne Uhr um.« »Ach so«, erwiderte ich. Vielleicht waren die Probleme mit seiner Haut ja sogar der Anlass für seinen Klinikaufenthalt. Jedenfalls hatte ich in einer Broschüre der Klinik gelesen, dass man hier auch psychosomatisch bedingte Hauterkrankungen behandelte. Aber konnte das tatsächlich der einzige Grund sein, aus dem Daniel hier war? Naja, die Haut galt schließlich im Volksmund auch als Spiegel der Seele. Vielleicht lag sein wirkliches Problem also tiefer? Ich musste mir eingestehen, dass ich durch meine laienhaften Versuche, irgendwelche Zusammenhänge herzustellen, die es vielleicht überhaupt nicht gab, auch nicht sehr viel schlauer wurde. Warum interpretierte ich überhaupt in jede kleine Bemerkung von ihm irgendetwas hinein? Irgendwie fand ich diesen Wesenszug an mir ziemlich unsympathisch. »Hinter dir über dem Aufzug hängt übrigens 'ne Uhr.« »Ah gut, beim nächsten Mal weiß ich dann, wo ich nachsehen muss.« Nachdem er das gesagt hatte, stand Daniel zu meiner Enttäuschung plötzlich auf. »Ich muss noch mal schnell zu unserem Psychologen«, erklärte er mir. »Der wollte was klären und mir dann Bescheid geben. So langsam sollte ich noch mal in sein Zimmer schauen.« »Okay. Kommst du danach noch mal hierher?« »Mal sehen.« Er lächelte mich kurz an, dann war er um die Ecke im Gang verschwunden. Obwohl er mich alleine gelassen hatte, fühlte ich mich fast euphorisch. Daniel sah nicht nur verdammt gut aus, er war auch verdammt nett. Irgendwie konnte ich mir im Augenblick nichts Schöneres vorstellen, als einfach nur die Zeit in seiner Gegenwart zu verbringen. Ich nahm mir fest vor, ihn gleich bei der nächsten Begegnung zu fragen, ob er mal mit in den Ort kommen wollte. Schließlich kannte ich mich dort inzwischen bestens aus und konnte ihm alles zeigen. Ich hoffte, dass er nach dem Besuch beim Psychologen gleich wieder zurück in die Halle kommen würde. Als dann eine Minute nach der anderen verging, Daniel aber nicht mehr auftauchte, stieg schließlich doch wieder eine leise Befürchtung in mir hoch. Was hatte der Psychologe ihm noch mitteilen wollen? Und warum hatte das Einzelgespräch bei Daniel so ungewöhnlich früh stattgefunden? Irgendwie kam mir das alles ziemlich komisch vor. Wenn da nicht seine Andeutung von vorhin gewesen wäre, hätte ich mir bei all dem wahrscheinlich nichts gedacht. So grübelte ich beunruhigt darüber nach, was hier wohl vor sich ging. Zum Mittagessen war Daniel dann zwar wieder unten, doch irgendwie ergab sich keine Möglichkeit, mit ihm zu reden. Naja, mein Nachmittag war ohnehin mit diversen Therapiestunden verplant, so dass für einen Spaziergang in den Ort gar keine Zeit gewesen wäre. Die Zeit bis zum Abendessen verging daher, ohne dass ich Daniel auch nur ein einziges Mal zu Gesicht bekam. Komischerweise machte es mich irgendwie nervös, nicht zu wissen, wo er gerade war und was er gerade machte. Packte er vielleicht gerade seine Koffer? Als ich abends dann mit Kevin in den Speisesaal hinunterging und dort feststellte, dass Daniel bereits an seinem Tisch saß, fiel mir fast ein Stein vom Herzen. Er war also noch hier. Umso erschrockener war ich dann, als ich während des Essens zufällig zum Tisch seiner Gruppe hinüberblickte. Dort waren alle aufgestanden und Daniel schüttelte den anderen gerade der Reihe nach die Hand. Schlagartig verging mir der Appetit. Ich versuchte mir einzureden, dass das, was wie eine Verabschiedungszeremonie aussah, gar keine war. Oder dass es zumindest nicht Daniel war, der sich von den anderen verabschiedete. Das Ganze war nur leider keine Halluzination und auch kein böser Traum, sondern bittere Realität. Die anderen setzten sich wieder, Daniel blieb stehen. Nachdem er noch ein paar Worte mit Armin gewechselt hatte, kam er zu uns herüber. Es musste ja ohnehin an unserem Tisch vorbei, wenn er den Speisesaal verlassen wollte. »Hi«, sagte er, als er zu uns herantrat. »Von euch wollte ich mich auch noch kurz verabschieden.« »Bleibst du nicht hier?« hörte ich Gudrun fragen. Ich selbst fühlte mich wie gelähmt und suchte im Geiste nach den passenden Worten, mit denen ich Daniel davon überzeugen konnte, dass er unbedingt hier bleiben musste. Aber mir fiel nichts Passendes ein. Wahrscheinlich hätte ich sowieso kein Wort herausgebracht. »Unser Psychologe hat 'ne andere Klinik für mich gefunden«, fing Daniel derweil an zu erklären. »Der meint, die passt besser für mich. Und da die zufällig gerade 'nen Platz frei haben, komm ich jetzt da hin.« »Na dann mach's gut dort«, erwiderte Gudrun. Von den anderen waren ähnliche gute Wünsche zu vernehmen, lediglich ich brachte immer noch keinen Ton heraus und sah Daniel nur entgeistert an. »Hey, ich dachte ...« stammelte ich schließlich. »Ich dachte, du leihst mir mal deinen Walkman.« Welcher Teil meines Gehirns hatte sich nur diesen bescheuerten Satz ausgedacht? Ich sah, wie Daniel mit den Schultern zuckte. Bildete ich mir den traurigen Ausdruck in seinem Gesicht nur ein? »Sorry, hätte ich echt gern gemacht, aber ...« Auch ihm schienen die passenden Worte zu fehlen. Fühlte er sich vielleicht ähnlich wie ich? Wohl kaum, sonst hätte er sich nicht so einfach in eine andere Klinik verlegen lassen. Oder vielleicht doch? Wenn ich das nur gewusst hätte. Dann hätte ich mich vielleicht getraut, ihm zu sagen, dass ich ihn vermissen würde. Oder ihn zumindest nach seiner Adresse gefragt. »Naja, ich muss los. Ich werde gleich abgeholt«, fuhr er schließlich fort. »Ciao, macht's gut.« Noch ehe ich irgendwie reagieren konnte, war er aus dem Speisesaal und damit auch aus meinem Leben verschwunden. Anstatt ihm nachzulaufen blieb ich wie paralysiert sitzen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, kaute ich auf meinem Brot herum. Als Gudrun und Nadine die andere Gruppe dann erneut zu überreden versuchten, den Abend gemeinsam zu verbringen, bekam ich das überhaupt nicht richtig mit. Diesmal hatten sie wohl sogar Erfolg, aber jetzt, wo Daniel weg war, interessierte mich das nicht mehr. Nach dem Essen kam Kevin noch kurz mit aufs Zimmer. Er wollte sich nur für den Abend umziehen, ich dagegen warf mich auf mein Bett mit der festen Absicht, es an diesem Tag nicht wieder zu verlassen. »Alles klar mit dir?« wollte Kevin sofort wissen. »Nichts ist klar.« »Naja, ist eben dumm gelaufen. Hey, es gibt noch 'ne Menge andere süße Jungs.« »Ja, aber nicht hier!« »Und was ist mit mir? Eigentlich dachte ich bisher, dass du mich auch ganz süß findest.« Okay, er wollte mich aufmuntern und schaffte es sogar, mir ein kurzes Grinsen zu entlocken. Aber erwartete er wirklich, dass mir seine Sprüche irgendwie halfen? »Mann, glaub mir, der Typ war sowieso nicht schwul.« »Woher willst du das denn wissen?« fragte ich erbost. »Bei Thomas hab ich doch auch sofort gemerkt, dass er schwul ist, oder?« »Ja, aber bei mir hat dein Gespür in der Hinsicht komplett versagt.« Kevin schien keine Erwiderung mehr einzufallen. »Mach du dir 'nen schönen Abend und lass mich einfach in Ruhe, okay?« Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich richtig unfreundlich zu Kevin war. Naja, er würde das sicher verstehen. Während er sein Sweatshirt auszog und einen Wollpullover aus dem Schrank holte, ärgerte ich mich über mich selbst. Warum hatte ich Daniel heute Vormittag nicht einmal nach seinem Nachnamen und seinem Wohnort gefragt? Dann hätte ich jetzt wenigstens die Möglichkeit gehabt, ihn wieder ausfindig zu machen. Einfach nur zu wissen, wo ich ihn finden konnte, hätte mir ja schon genügt. Wahrscheinlich hätte ich dann zwar trotzdem nie wieder mit ihm Kontakt aufgenommen, schon deswegen nicht, weil ich ihm dann hätte erklären müssen, warum ich so großes Interesse an ihm hatte. Aber besser gefühlt hätte ich mich. Jetzt würde schon etwas ganz unvorhergesehenes passieren müssen, damit wir beide uns jemals wieder sahen. »Soll ich vielleicht lieber hier bei dir bleiben? Oder kommst du doch noch mit?« wollte Kevin wissen, als er den Pullover angezogen hatte. Er sah darin verdammt gut aus. Sicher würde er bei den Mädchen aus der anderen Gruppe mächtig Eindruck machen. Naja, er würde ja auch keine Konkurrenz haben. Armin sah nicht so aus, als wäre er der große Mädchenschwarm. »Nein! Und ich komm schon allein klar«, blaffte ich ihn an. »Na gut, du kannst ja noch nachkommen. Wir sind im obersten Stock. Gudrun wollte ein paar Flaschen Wein besorgen. Vielleicht hast du ja später Lust, dich zu betrinken.« Ich hörte noch, wie er die Türe hinter sich schloss. Dann kehrte Ruhe ein und ich war alleine.
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