Kapitel 24 - Zurück Am nächsten Morgen wurde ich früh von Kevin geweckt. Der sah aus, als wäre er schon seit längerer Zeit auf den Beinen. »Hey, wach auf, wir haben heute noch was vor!« rief er mir direkt ins Ohr und rüttelte an meiner Schulter, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich munter wurde. »Was ist denn? Es ist erst Acht. Unser Zug fährt erst kurz nach Elf!« entgegnete ich gereizt nach einem verschlafenen Blick auf den Wecker. »Ich will noch wo vorbeischauen«, erwiderte er. Seine Stimme klang auf einmal ängstlich. »Wo denn?« »Ich will da jetzt noch nicht drüber reden. Ich weiß nicht, ob ich’s wirklich schaffe.« Ich konnte mir keinen Reim auf sein Verhalten machen, fragte aber nicht weiter nach und stieg aus dem Bett. Kevin hatte unten schon Ordnung gemacht und sogar ein provisorisches Frühstück vorbereitet, das wir schnell verzehrten. Wir verließen das Haus viel früher als ursprünglich geplant. Draußen erwartete uns ein trüber Sonntagvormittag. Es war erstaunlich warm und ich war froh, nur ein T-Shirt unter der Jacke zu tragen. Statt den Weg, auf dem wir gestern hierher gekommen waren, wieder zurückzugehen, schlugen wir an diesem Tag eine andere Richtung ein. Kevin wollte immer noch nichts von seinem Vorhaben preisgeben, so dass wir meist schweigend durch die Siedlung liefen. Mit der Zeit wurden die Grundstücke kleiner und die Häuser biederer. Irgendwann bogen wir von der breiten Wohnstraße in einen kleinen Seitenweg ab, der sich bald als Sackgasse entpuppte. Kevin blieb vor einem Gartentor stehen und drückte dort auf die Klingel. Nur wenige Augenblicke später trat eine Person aus der nahegelegenen Haustür. Sofort erkannte ich die roten Haare und die schwarze Jacke wieder. Enrico wohnte hier! »Hey, ihr seid ja schon da«, rief er uns zu und wünschte uns einen guten Morgen. Nachdem er das Haus abgeschlossen hatte, kam er zu uns herüber. Obwohl ich von seinem Auftauchen völlig überrascht war, lächelte ich ihm sofort erfreut zu. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn an diesem Wochenende noch einmal zu sehen, und war mir nicht wirklich sicher, ob ich dieses Aufeinandertreffen wirklich wollte. Schon in der vergangenen Nacht war mir der Abschied schwer genug gefallen. War das etwas Kevins Plan gewesen? Waren wir nur deswegen so früh aufgebrochen, damit ich noch Zeit mit Enrico verbringen konnte? Ich verwarf diese Theorie sofort wieder, weil Kevin am Morgen viel zu ernst gewesen war und auch jetzt noch angespannt wirkte. Wir setzten unseren Weg zu dritt fort, angeführt von Kevin, der weiter ziemlich still blieb. »Oh Mann«, entfuhr es Enrico auf einmal. »Jetzt weiß ich, wo du hinwillst!« Kevin seufzte. »Bist du sicher, dass du das schaffst?« fragte Enrico nach. »Ich muss da einfach hin«, antwortete Kevin gequält. »Und mit euch zwei zusammen werd’ ich das ja wohl schaffen!« Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Erst als ich auf einem Wegweiser das Wort ‚Waldfriedhof’ entdeckte, dämmerte es mir, dass wir zum Grab seines Bruders unterwegs waren. Auch ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Kevin war nicht auf der Beerdigung gewesen. Wahrscheinlich hatte er das Grab noch nie gesehen. Ob er überhaupt wusste, wo genau es lag? War Enrico etwa deswegen mitgekommen? Als wir schließlich vor dem Gelände standen, war mir nicht wohl dabei, ebenfalls mit hineinzugehen. Schließlich hatte ich seinen Bruder überhaupt nicht gekannt. »Ist es okay, wenn ihr beide ohne mich da rein geht?« wollte ich daher wissen und erklärte ihnen, warum ich selbst lieber vor der Pforte warten wollte. Nachdem Kevin zögernd zugestimmt hatte, öffnete Enrico das schmiedeeiserne Tor und machte sich zusammen mit seinem besten Freund, der nur zögerlich Schritt vor Schritt setzte, auf den Weg. Bald verschwanden sie hinter Büschen und Bäumen aus meinem Blickfeld. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die beiden zurück waren, und in welchem Zustand Kevin dann sein würde. Unruhig lief ich vor der Friedhofsmauer auf und ab und blickte immer wieder auf das Gelände, um nach ihnen Ausschau zu halten. Zu allem Überfluss begann es jetzt auch noch zu tröpfeln. Ich betete fast darum, dass der Regen nicht stärker wurde. Dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um meinen Kapuzenfetisch auszuleben. Bei einer anderen Gelegenheit wäre ich natürlich nur zu gerne zusammen mit Enrico mit aufgesetzten Kapuzen durch den Regen spaziert. Im Moment lag mir jedoch nichts ferner. Die beiden schienen eine halbe Ewigkeit nicht wieder zu kommen und meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Wenigstens hatte das Wetter ein Einsehen und es blieb bei ein paar vereinzelten Tropfen. Irgendwann sah ich sie dann endlich an den Grabreihen entlang zurück zum Tor kommen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Enrico mir schon von weitem beruhigend zuwinkte. Als die beiden vor mir zum Stehen kamen, wirkte Kevin zwar etwas mitgenommen, er ließ sich aber nichts weiter anmerken. Ich sah ihm nicht an, ob er vielleicht geweint hatte. Auch bei Enrico war die Erleichterung deutlich spürbar. »Auf zum Bahnhof«, forderte Kevin uns schließlich auf. Er schien nicht weiter über seine Gefühle reden zu wollen. Vielleicht hatte er das ja bereits mit Enrico auf dem Friedhof getan. Die Stimmung unter uns blieb nachdenklich, als wir gemeinsam unseren Weg fortsetzten. Erst als wir das Stationsgebäude betreten hatten und unsere Sinne durch die anderen wartenden Fahrgäste, die Reklametafeln und die Auslagen an den Kiosken etwas Ablenkung fanden, schien der Trübsinn auch bei Kevin langsam wieder zu verfliegen. Da wir bis zur Abfahrt des Zuges noch viel Zeit hatten, ließen wir uns nebeneinander in einem beheizten, durch eine Glasfront vom Rest der Bahnhofshalle abgetrennten Wartesaal nieder. Unsere Jacken und den Rucksack warfen wir achtlos über die Lehnen der anderen freien Sitze, da wir den Raum fast für uns allein hatten. Ich besorgte uns am Kiosk die aktuelle Tageszeitung, die wir dann gemeinsam durchblätterten, um uns die Zeit zu vertreiben. Enrico und ich sahen uns immer wieder verstohlen an, wussten aber wohl beide nicht recht, wie wir miteinander umgehen sollten. Für mich zumindest stand fest, dass es erst einmal besser war, ihn nicht zu sehr in mein Herz zu schließen, konnte im Gegenzug aber schlecht einschätzen, ob er das genauso empfand oder sich mehr erhoffte. »Ich kümmere mich mal um die Fahrkarten«, erklärte ich schließlich, um der Situation zumindest vorübergehend zu entfliehen, und war fast erleichtert als keiner der beiden irgendwelche Anstalten machte, mit mir mitzukommen. Der einzige Fahrkartenautomat im Gebäude war defekt, so dass ich hinaus auf den Bahnsteig musste, um mein Glück dort an einem anderen Automaten zu versuchen. Schon als ich ins Freie trat, fing ich in meinem kurzärmligen T-Shirt leicht an zu frösteln, wollte aber nicht mehr zurück, um meine Jacke zu holen. Zunächst musste ich eine Weile warten, bis ein anderer Fahrgast den Erwerb seines eigenen Tickets beendet hatte. Dann dauerte es noch mehrere Minuten, bis ich mich mit der Bedienung vertraut gemacht und selbst die richtigen Fahrkarten für Kevin und mich gelöst hatte. Wenigstens sorgte eine große Reklamewand neben dem Gerät für etwas Windschutz. Als ich schließlich vor Kälte schlotternd zurück zu den beiden anderen Jungs kam, schlüpfte ich sofort in meine Jacke und schmiegte den weichen Nylonstoff eng um mich. Inzwischen waren es nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt, sodass wir uns bald zu dritt auf den Weg hinaus auf den Bahnsteig machen mussten. Die Waggons des Zuges erwarteten Kevin und mich dort bereits mit offenen Türen. Den Abschied von Enrico gestalteten wir kurz und schmerzlos. Durchs Fenster winkten wir ihm ein letztes Mal zu. Dann setzte sich der Zug auch schon ächzend in Bewegung. Geknickt verbrachte ich die knapp dreißigminütige Fahrt bis zu unserem ersten Umsteigeaufenthalt. Ich hatte das Gefühl, eine echte Chance verpasst zu haben. Die letzten Stunden mit Enrico hatte ich einfach so verstreichen lassen. Jetzt war es zu spät. Ich würde ihn wahrscheinlich monatelang nicht wiedersehen. Vielleicht würde ich ihn überhaupt nie mehr wiedersehen. Als wir den Zug an einem der nächsten Bahnhöfe verlassen hatten und durch die Unterführung zu dem Gleis gelaufen waren, an dem unser Anschlusszug abfahren würde, war meine Stimmung auf dem Nullpunkt. Kevin sah mir kopfschüttelnd dabei zu, wie ich unruhig auf dem Beton neben den Schienen auf und ab lief, eine achtlos weggeworfene Bierdose wiederholt gegen einen Lampensockel kickte, bis sie so platt und zerbeult war, dass ich sie mit der Fußspitze nicht mehr richtig traf, und anschließend begann, nervös mit dem Reißverschluss meiner Jacke zu spielen. Irgendwann schien es ihm zuviel zu werden. Er kam zu mir herüber und griff nach meinem rechten Arm, der den Reißverschlussschieber abwechselnd ein Stück nach oben und wieder nach unten zog. »Jetzt hör endlich damit auf! Du reißt den Nippel sonst noch ab! Beruhig dich mal, steck deine Hände in die Jackentaschen und werd wieder locker.« »Was soll das denn jetzt?« wollte ich wissen, gehorchte ihm aber. In der rechten Tasche fand ich sehr zu meiner Überraschung einen Gegenstand vor. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den dort hinein gesteckt hatte. Das unbekannte Etwas fühlte sich an wie ein in der Mitte zusammengefaltetes Stück Pappe mit glatter Oberfläche. Als ich es herauszog und ansah, lächelte mich Enrico in doppelter Ausführung von zwei Passfotos aus an. Seine Locken wirkten auf den Bildern noch roter als sonst, wahrscheinlich wegen des Blitzlichts. Unvermittelt musste ich lachen. Wahrscheinlich hatte er die Fotos im Bahnhof schnell an einem Automaten geschossen, während ich die Tickets geholt hatte, und sie dann heimlich in die Tasche meiner Jacke gesteckt. Anders konnte ich mir das jedenfalls nicht erklären. »Mann, ich hatte erwartet, dass du die viel früher findest«, hörte ich Kevin ärgerlich von hinten. »Muss man bei dir eigentlich immer nachhelfen?« Ich faltete den Streifen vorsichtig auseinander , um ihn nicht zu beschädigen, und es kamen zwei weitere Fotos zum Vorschein. Auf diesen beiden hatte Enrico die Kapuze seiner Jacke aufgesetzt. »Du hast ihm also doch was gesagt!« fuhr ich Kevin an. Im ersten Moment war ich etwas ärgerlich. »Ich hab ihm nur ’nen kleinen Tipp gegeben, als er mir von seiner Idee mit den Fotos erzählt hat. Hab ihm nur gesagt, dass er auf einem der Bilder die Kapuze überziehen soll. Er hat gar nicht weiter nachgefragt.« Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich meinen Blick erneut über die vier Fotos schweifen ließ. »Schau auch mal auf die Rückseite«, drängte mich Kevin nach einer Weile. Als ich den Papierstreifen umdrehte, fiel mein Blick auf die Worte: ‚Lieber David, ich freue mich auf unser Wiedersehen. Alles Liebe, Enrico.’ Neben seinen Namen hatte er ein kleines Herz gemalt. Außerdem hatte er seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse dazugeschrieben. Ich konnte mein Glück nicht lange genießen, denn schon im nächsten Moment hielt mir Kevin ein Handy entgegen. In der Klinik waren die zwar unerwünscht, er schien seines aber trotzdem an diesem Tag von Zuhause mitgenommen zu haben. »Was soll ich ihm denn sagen?« fragte ich hilflos. »Zum Beispiel, dass du mit dem Zug da drüben gleich wieder zurückfährst.« Er deutete auf die drei Gleise entfernt stehenden Waggons, mit denen wir hierher gekommen waren. »Das ist nicht dein Ernst?« »Warum denn nicht?« »Weil das nicht geht! Wir müssen heute Abend wieder in der Klinik sein!« »Mann, du kannst ja gleich morgen Früh fahren. Dann bist du zum Mittagessen wieder zurück. Du wirst deswegen schon keinen Ärger bekommen.« »Ich weiß aber nicht, ob Enrico das überhaupt will.« »Wenn ich’s dir doch sage!« erwiderte Kevin und verdrehte die Augen. »Er ist inzwischen bestimmt schon wieder bei sich Zuhause«, wand ich ein. Langsam gingen mir die Argumente aus. Obwohl ich tatsächlich gerne zu Enrico zurückgefahren wäre, schreckte ich doch vor dieser spontanen Aktion zurück. »Enrico ist immer noch am Bahnhof.« »Warum sollte er da jetzt noch sein?« fragte ich verblüfft. »Um auf dich zu warten zum Beispiel?« »Warum sollte er glauben, dass ich noch mal zurückkomme?« »Weil ich ihm gesagt habe, er soll dort bleiben, bis der Zug von hier aus wieder zurückgefahren ist. Wenn du dann noch nicht bei ihm angerufen hast, kann er heimgehen. Er starrt jetzt bestimmt nervös auf sein Handy und wartet verzweifelt darauf, dass es klingelt.« Als ich weiter wie betäubt dastand und nicht wusste, wie ich reagieren sollte, rüttelte Kevin an meinen Schultern. »Mann, entscheide dich endlich, sonst fährt der Zug weg!« Im gleichen Moment kam eine Durchsage durch die Laufsprecher, die uns darauf hinwies, dass der Zug tatsächlich gleich abfahren würde. »Los! Lauf!« forderte Kevin mich auf. Jetzt war ich wirklich zum Handeln gezwungen. Ich warf alle Einwände und Befürchtungen über Bord und leistete keinen Widerstand, als Kevin mich am linken Unterarm ergriff und hinter sich her zerrte. Nebeneinander rannten wir die Treppe hinunter und durch den Tunnel zum anderen Gleis. »Das mit dem Anruf muss dann wohl ich erledigen«, rief Kevin mir unterwegs zu. »Ich würde dir ja gerne mein Handy überlassen, aber ich habe Sara versprochen, dass ich von unterwegs bei ihr anrufe.« Als wir auf der anderen Seite den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, hechtete ich sofort durch die nächstgelegene offene Waggontür. Der Schaffner stand bereits mit seiner Kelle bereit. Ich hatte es also gerade noch in letzter Sekunde geschafft! Kevin warf mir noch schnell seinen Schlüsselbund entgegen. »Falls ihr wieder schwimmen wollt«, rief er mir zu. Mir blieb keine Zeit mehr für irgendwelche Entgegnungen. Ich rief ihm nur noch kurz ein spontanes Danke zu, als sich bereits die Türen vor mir schlossen. Die Fahrt verbrachte ich in gespannter Erwartung. Hatte Kevin Enrico wirklich angerufen und ihm Bescheid gesagt, dass ich kam? Hatte Enrico es sich vielleicht doch noch anders überlegt und war gar nicht mehr so scharf auf ein Wiedersehen mit mir? Als sich der Zug wieder dem Bahnhof von Kevins Heimatstadt näherte, schob ich das Fenster neben meinem Sitz nach unten, ohne auf die wenigen anderen Fahrgäste Rücksicht zu nehmen, die sich durch den kalten Luftzug möglicherweise gestört fühlten. Zu meiner großen Erleichterung brauchte ich nicht lange nach Enrico Ausschau zu halten, denn der stand mutterseelenallein direkt am Ende des Bahnsteigs. Als er mich winken sah, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Er winkte kurz zurück und spurtete dann los, um mit dem Zug Schritt zu halten, fiel aber bald zurück. Als er den Waggon, in dem ich mich befand, wieder eingeholt hatte, stand ich bereits in der offenen Tür. »Da bin ich wieder!« rief ich ihm zu und winkte verlegen. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich ziemlich unsicher und fragte mich, wie sich unser Zusammensein wohl entwickeln würde. Enrico war von dem kurzen Sprint schon wieder ziemlich aus der Puste. Wir ließen uns deshalb zunächst nebeneinander auf eine Bank fallen. »Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist«, stieß er keuchend aus. Spontan legte ich ihm einen Arm um die Schultern und wartete einen Moment, bis sein Atem sich wieder halbwegs normalisiert hatte. Noch immer hatte ich den Papierstreifen mit seinen Porträts in der Hand. Ich hielt ihn hoch, so dass er die Bilder sehen konnte. »Das mit den Fotos war echt ’ne gute Idee.« »Mann, ich war so verzweifelt, weil ich dich vielleicht nie wieder sehen würde. Da musste ich mir eben was einfallen lassen.« »Ich hatte dir doch versprochen, dass ich wieder komme.« »Ja, schon. Aber ich war mir nicht sicher, ob du mich wirklich magst. Wie hätte ich die Ungewissheit so lange aushalten sollen?« Eine Weile saßen wir nur da und sahen uns gegenseitig in die Augen. »Dir gefallen meine roten Haare nicht so besonders, oder?« fuhr er nach einer längeren Pause ängstlich fort und fuhr sich dabei mit der Hand über den Kopf. »Quatsch, wie kommst du denn darauf?« entgegnete ich sofort. »Naja, Kevin meinte, ich solle für die Fotos die Kapuze aufsetzen. Ich dachte, damit man die Haare nicht so sieht.« »Unsinn! Ich mag deine Haare«, beruhigte ich ihn lächelnd und wuschelte ihm kurz durch die Locken, was ihm ein breites Grinsen entlockte. »Früher in der Grundschule habe ich mir wegen der Farbe öfters mal dumme Sprüche anhören müssen«, erklärte er mir. »Kevin musste mich dann immer verteidigen. Der war viel stärker als ich. Einmal hätte er einen anderen Jungen fast verprügelt.« Ich hörte interessiert zu und begann dann selbst zögerlich zu erklären: »Das mit der Kapuze hat einen anderen Grund. Ich mag Kapuzen einfach, und Kevin weiß das. Ist so ’ne Art Fetisch.« »Ach so«, entgegnete Enrico leicht verdattert. »Wenn du willst, kann ich die ja wieder aufsetzen«, fuhr er zögerlich fort und war bereits dabei, nach hinten über die Schulter zu greifen. Ich fasste nach seiner Hand, um ihn daran zu hindern. »Nee, lass mal!« Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich begriff, was ich ihm soeben offenbart hatte. Vielleicht hatte er keine Ahnung, was ein Fetisch überhaupt war? Ich würde das Thema lieber erst einmal ad acta legen. »Wir sollten langsam gehen«, fuhr ich deshalb fort. »Schließlich können wir nicht den ganzen Tag hier auf dem Bahnsteig herumsitzen.« Als ich die Fotos einsteckte, diesmal in die Innentasche, fand ich dort mein Zugticket vor. Grinsend streckte ich es Enrico entgegen. »Ich sollte wirklich besser von hier verschwinden. Wahrscheinlich bin ich gerade schwarz mit dem Zug gefahren. Ich glaube kaum, dass man mit dieser Fahrkarte noch mal zurückfahren darf.«
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