Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 25 - Liebe?

Wir machten uns auf den Weg zurück zu Enricos Zuhause. Als wir kurz nach Mittag an einer Konditorei vorbeikamen, die auch am Sonntag geöffnet hatte, stellten wir beide fest, dass unsere Mägen langsam zu knurren begannen. Enrico schlug vor, daheim erst einmal Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen. Trotzdem kauften wir uns für den Nachmittag ein paar Donuts mit bunter Glasur. Ich bezahlte und packte sie in meinen Rucksack.

»Hast du eigentlich noch Geschwister oder haben wir euer Haus ganz für uns allein?« wollte ich unterwegs irgendwann wissen.

»Ich hab eine zwei Jahre ältere Schwester. Die hat aber diesen Winter mit ihrem Studium begonnen und kommt während des Semesters nur jedes zweite oder dritte Wochenende nach Hause. Wahrscheinlich kommt sie nächsten Freitag mal wieder.«

Wir unterhielten uns weiter über unser beider Familien, bis wir sein Haus erreicht hatten. Ich erfuhr, dass sein Vater vor einigen Jahren mit einer eigenen kleinen Firma pleite gegangen war und jetzt einen ziemlich mühsamen Vertreterjob hatte. Glücklicherweise verdiente seine Mutter mit ihrem Anteil an der Boutique von Frau Winter etwas dazu. Im Haus angekommen zeigte er mir zunächst die Zimmer im Erdgeschoss. Obwohl das Gebäude von außen bereits älter wirkte, war die Einrichtung modern und geschmackvoll.

Nach dem Mittagessen führte er mich dann in sein Zimmer, das im ausgebauten Dachgeschoss lag und über eine Wendeltreppe erreichbar war. Die schrägen Wände waren mit hellen Holzpanelen verkleidet, die wiederum mit zahlreichen Postern beklebt waren, hauptsächlich mit irgendwelchen Filmplakaten, die mir wenig sagten. Den Boden bedeckte ein flauschiger beigefarbener Teppich, auf dem vor einer schmalen Couch ein niedriger Tisch stand. In dessen Mitte befand sich eine Schale mit verschiedenen Süßigkeiten, die mein Verlangen nach einer Nachspeise weckten. Gegenüber stand in einer Kombination aus kleinen Schränken, Schubladen und Regalen ein mittelgroßer Flachbildfernseher und eine Spielkonsole. Ein Doppelfenster in einem Erker zwischen Couch und Bett gab den Blick auf den kleinen Garten hinter dem Haus frei. An der am weitesten von der Treppe entfernten Seite des Raums stand unter einem weiteren Fenster ein Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. In den Regalen entdeckte ich zahlreiche Bücher, CDs und DVDs. Bis auf das ungemachte Bett mit der bunten Bettwäsche, deren einer Zipfel bis auf den Boden hing, wirkte alles aufgeräumt und sauber. Ich konnte nur wenige Anzeichen dafür entdecken, dass hier ein schwuler Teenager lebte. Lediglich ein paar seiner Bücher und DVDs wiesen darauf hin.

»Setz dich doch«, bot Enrico an. »Kannst dir ruhig ein Mars oder ein Snickers aus der Schale nehmen, wenn du möchtest. Bounty ist leider alle. Ich steh total auf Kokosflocken, so dass die immer als Erstes weg sind..«

»Danke, mir ist ein Snickers sowieso lieber.«

»Wollen wir was zocken?« fragte er, während ich den Schokoriegel auspackte.

Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich war mir alles Recht, solange ich nur Zeit in seiner Gegenwart verbringen konnte. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht. Einfach nur mit ihm zusammen sein.

»Kennst du MotorStorm Pacific Rift?” wollte er wissen. »Das hat ‘nen Splitscreen-Modus.«

»Nee, ich hab keine Konsole. Ich mag eigentlich hauptsächlich Echtzeit-Strategiespiele am PC, so Sachen wie Command & Conquer. Aber wir können das trotzdem spielen, wenn du mir ’ne Chance lässt.«

»Klar, mach ich«, antwortete er dankbar lächelnd.

Eine ganze Weile verbrachten wir nebeneinander auf der Couch, die Controller in der Hand, und fuhren um die Wette. Schnell wurde ich besser und gewann sogar das eine oder andere Rennen, zumindest wenn ich es schaffte, Enrico unfair von der Strecke zu drängen. Mit der Zeit stießen wir nicht mehr nur mit unseren Fahrzeugen zusammen, sondern rempelten uns auch immer öfter sanft gegenseitig mit den Ellenbogen an, um den anderen beim Steuern zu behindern. Aufgrund der Kabbeleien brachen wir häufig in heftiges Lachen und Kichern aus. Als ich ihn einmal in zwei Rennen hintereinander besiegt hatte, ließ er sich von mir tröstend in die Arme nehmen.

»Mann, das kann ja wohl nicht sein, dass du jetzt schon besser bist als ich«, jammerte er übertrieben, als er sich nach einiger Zeit wieder aus meinem Griff löste.

»Du hast mich sicher extra gewinnen lassen«, grinste ich ihn an.

Als wir genug von dem Rennspiel hatten, holte Enrico zwei Teller und meinen Rucksack mit den Donuts nach oben. Gläser und Getränke hatte er bereits während einer kurzen Spielpause gebracht. Ich fuhr noch schnell ein letztes Rennen gegen mehrere Computergegner, die mittlerweile aber alle keine Chance mehr gegen mich hatten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Enrico dabei, wie er die Tüte mit den Donuts aus dem Rucksack zog und anschließend auch noch mein weißes Kapuzensweatshirt zum Vorschein brachte, das ich am Morgen dort zerknüllt hineingestopft hatte.

»Darf ich das mal anziehen?« wollte er wissen.

»Klar«, erwiderte ich und legte den Controller beiseite.

Sein eigener Pullover flog auf sein Bett und nach wenigen Sekunden hatte er mein Sweatshirt über den nackten Oberkörper gestreift. Die Kapuze landete gleich auf seinem Kopf, nur ein paar rote Locken lugten darunter hervor. Er sah wahnsinnig niedlich aus! Der bunte Druck auf der Frontseite war zwar etwas zerknittert, das störte den Gesamteindruck aber kein bisschen.

Dann fing er an, die Donuts zu gleichen Teilen auf die beiden Teller zu packen. Mit einem Teller in jeder Hand kam er zurück zur Couch. Nachdem er mir den für mich bestimmten gereicht hatte, ließ er sich selbst wieder neben mich auf die Couch plumpsen, lümmelte sich in den Sitz, legte die Füße auf den Tisch und biss genüsslich in den ersten Donut.

»Mmh, lecker«, kam es mampfend von ihm herüber.

Wir aßen jeder erst mal zwei von diesen süßen Gebäckkringeln. Unterdessen miteinander zu reden war vollkommen unmöglich. Wenn einer von uns etwas sagte, konnte der andere nicht antworten, weil er gerade den Mund voll hatte. Unverständliche Laute und zwanghaftes Kichern waren die Folge. Ich fühlte mich in Enricos Gegenwart unglaublich wohl und wollte gar nicht daran denken, dass wir uns in nur wenigen Stunden wieder würden trennen müssen.

»Du stehst also auf so Kapuzensachen?« fragte er mich, als wir aufgegessen hatten. Er hatte seinen kapuzenbedeckten Kopf nach hinten auf die Sitzlehne gelegt und in meine Richtung gedreht.

»Ja«, antwortete ich, plötzlich wieder etwas schüchtern.

»Bis auf die schwarze Jacke hab ich überhaupt keine Klamotten mit Kapuze. Komisch, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was für eine Antwort er nun von mir erwartete.

»Doch, ’ne alte Regenjacke müsste noch irgendwo im Schrank liegen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Glaub aber nicht, dass mir die noch passt.«

»Wenn du willst, kannst du das Sweatshirt behalten«, bot ich an.

»Echt?«

»Klar.«

»Wow! Immer wenn ich das anziehe, werd’ ich an dich denken.«

Er ließ seinen Kopf an meine Schulter gleiten. Ich spürte, wie der Baumwollstoff der Kapuze an meiner Wange entlang strich, als er sich wohlig räkelte.

»Oh Mann«, seufzte er. »Kannst du nicht hier bleiben?«

»Nee, würde ich aber wirklich gern«, seufzte ich zurück und nahm seine Hand.

»Hat Kevin dir eigentlich verraten, dass ich wegen dir die ganze Nacht nicht schlafen konnte?«

»Nein, echt?« antwortete ich schuldbewusst.

»Ja, hab kein Auge zugetan. Und gleich am frühen Morgen Kevin angerufen und ihm gesagt, dass ich dich unbedingt noch mal sehen will.«

»Das wusste ich nicht. Mann, ich wollte echt nicht, dass du wegen mir so fertig bist. Ich dachte, du wärst heute mitgekommen, weil Kevin deinen Beistand auf dem Friedhof gebraucht hat.«

»Den Entschluss dort hinzugehen muss er erst später gefasst haben, irgendwann nach meinem Anruf.«

»Wie ist es dort eigentlich gelaufen? Hat er was gesagt, als ihr auf dem Friedhof wart.«

»Ich hab ihm versprochen, nicht drüber zu reden. Er will seine Trauer anscheinend immer noch nicht so richtig zeigen. Aber am Grab hat er schon ein bisschen was von seinen Gefühlen rausgelassen. Ich glaube, ihm hat das heute schon irgendwie geholfen.«

»Eigentlich müsste er inzwischen zurück in der Klinik sein«, sagte ich nach einem Blick auf die Uhr. »Sollen wir ihn mal anrufen?«

»Klar, können mir machen.«

Enrico zog sein Handy aus der Tasche und wählte die eingespeicherte Nummer. Kevin war tatsächlich vor einigen Minuten dort angekommen. Er saß bereits mit den anderen aus der Gruppe zusammen und erzählte von unserem Ausflug. Dabei musste er auch erklären, warum ich noch nicht wieder mit zurückgekommen war. Auch Stefan war anwesend, allerdings schon so gut wie dabei, wieder nach Hause aufzubrechen. Ansonsten gab es dort keine Neuigkeiten. Alles in bester Ordnung also.

Nachdem Enrico das Handy weggesteckt hatte, schmiegten wir uns auf der Couch wieder aneinander.

»Jetzt will ich aber endlich mal wissen, was dir Kevin letzte Woche am Telefon alles über mich erzählt hat«, forderte ich Enrico irgendwann auf.

Zunächst erzählte er fast genau das, was auch Kevin bereits preisgegeben hatte. Nur ein wichtiges Detail hatte Kevin mir unterschlagen. Er hatte Enrico nämlich auch noch verraten, dass das Wort ‚unerfahren’ mich ziemlich gut beschrieb.

»Das hat er über dich aber auch gesagt«, erwiderte ich sogleich, um mich zu verteidigen und mich nicht schämen zu müssen. »Wundert mich aber schon irgendwie, weil ihr mit Maxi ja noch ’nen zweiten Schwulen in der Clique habt.«

Enrico antwortete mit leichter Enttäuschung in der Stimme: »Maxi schleppt mich zwar immer mal wieder in so ’ne schwule Jugendgruppe mit. Aber irgendwie hat sich trotzdem bisher nichts ergeben.«

»Und mit Maxi ist auch noch nie was gelaufen?«

»Nee. Er sagt, ich sei nicht sein Typ. Ich will aber auch überhaupt nichts von ihm. Er hat ja sowieso dauernd ’nen Anderen.«

»Ich hatte bisher nur übers Internet Kontakt zu anderen schwulen Jungs«, musste ich selbst schließlich zugeben. »Zumindest bevor ich in die Klinik gekommen bin. Wir haben dort noch ’nen Schwulen in der Gruppe. Der hat aber ’nen festen Freund.«

»Da hab ich ja Glück gehabt«, meinte Enrico lächelnd. Wir schmunzelten einander zu.

»Hast du denn im Netz wenigstens andere gefunden, die auch auf Kapuzenklamotten abfahren?« wollte er schließlich noch von mir wissen.

Wieder schüttelte ich traurig den Kopf. »Naja, so Freaks wie mich trifft man da schon ein paar. Nur sind das fast alles irgendwelche Heteros, die davon schwärmen, wie toll Frauen in Kapuzenjacken aussehen. Was soll ich denn bitte mit denen?«

»Weißt du was, ich hab ’ne Idee. Wir googeln mal danach. Ich bin da ziemlich gut drin, was zu finden. Komm mit!«

Wir liefen zu seinem Schreibtisch hinüber und er klappte seinen Laptop auf. Als das Ding bereit war, gab er als erstes ‚kapuze fetisch’ in die Suchmaske ein. Zuerst landeten wir auf einer Seite mit Bildern, auf denen Menschen mit Ledermasken zu sehen waren, mit Reißverschlüssen quer über den Mündern und ganz engen Augenschlitzen. Auf einer anderen Website war eine Person in einem Ganzkörper-Latexanzug zu sehen, die Kapuze wie bei einem Taucheranzug geformt.

»Von solchen Seiten hab ich auch schon viele gefunden«, sagte ich resigniert. »Lass es gut sein.«

»Jetzt warte doch mal!«

Irgendwann tippte er ‚kapuzen aufsetzen’ in das Suchfeld ein. In der Liste der Suchergebnisse tauchte ziemlich weit oben die Seite www.kapuze-aufsetzen.net auf. Er klickte auf den Link und deutete demonstrativ mit dem Zeigefinger auf das Display, nachdem sich die Seite aufgebaut hatte.

»Na, ist das nichts?« wollte er wissen.

Ich musste zugeben, dass ich das Bild auf der Titelseite der Website recht ansprechend fand. Und auf der Seite drehte sich tatsächlich alles um Daunenjacken, Regenjacken und Kapuzenpullis. Es gab auch ein Forum, in dem aber nicht viel los war. Die Seite schien aber auch noch ziemlich neu im Netz zu sein. Wahrscheinlich hatte ich sie selbst nur deshalb noch nicht gefunden. Vielleicht gab es da ja bald mehr zu sehen und zu lesen. Wenn ich wieder daheim war, würde ich jedenfalls öfters mal dort reinschauen.

Nachdem wir uns noch eine Weile durchs Netz geklickt, aber nichts Interessantes mehr gefunden hatten, griff Enrico nach einer kleinen Digitalkamera, die ebenfalls auf dem Schreibtisch lag.

»Wir müssen unbedingt ein paar Erinnerungsfotos machen, für die Zeit, in der wir uns nicht sehen.«

Ich stimmte sofort begeistert zu. Unter Verwendung von Blitz und Selbstauslöser posierten wir gemeinsam vor der Linse, mal Kopf an Kopf, mal der Eine in den Armen des Anderen, mal grinsend, mal Grimassen schneidend.

Wir überspielten die Bilder sofort auf Enricos Computer und hatten beim Ansehen noch mal genauso viel Spaß wie beim Aufnehmen der Fotos. Schließlich verschickte Enrico die besten Bilder sofort an meine Mailadresse. Wenn ich in der übernächsten Woche wieder heim kam, würde ich garantiert als erstes meine E-Mails abrufen.

»Wollen wir uns ’nen Film ansehen?« schlug Enrico schließlich vor.

Ich hatte nichts dagegen und überließ ihm die Auswahl. Als Enrico die DVD in den Player geschoben hatte, machten wir es uns wieder auf der Couch gemütlich. Während ich mich auf die linke Hälfte lümmelte, legte Enrico sich längs der Sitzfläche auf den Rücken und ließ die Beine auf der rechten Seite über die Lehne baumeln. Sein gerade mal wieder kapuzenbedeckter Kopf landete in meinen Schoß. Ich begann ihm sachte über Arme und Oberkörper zu streichen. Schon nach kurzer Zeit machte sich bei Enrico die durchwachte Nacht bemerkbar. Er fing an zu gähnen, kuschelte sich in den weichen Sweatshirtstoff und entspannte sich völlig unter meinen sanften Berührungen. Nach nicht einmal der Hälfte des Films war er eingeschlafen, atmete leise und gleichmäßig. Nur ab und zu stieß er ein wohliges Seufzen aus. Ganz sachte, um ihn ja nicht aufzuwecken, schob ich ihm die Kapuze ein Stück nach hinten, so dass seine roten Locken zum Vorschein kamen, und strich ich ihm sanft durchs Haar. Draußen hatte sich der Himmel zugezogen und es dämmerte langsam, so dass es auch im Zimmer immer dunkler wurde. Die Bilder auf dem Fernsehschirm tauchten uns beide in ein flackerndes Licht. Erste Regentropfen fielen auf die Dachziegel über uns.

Ich würde eine Weile über Enricos Schlaf wachen und ihn vorsichtig aufwecken, wenn der Film zuende war. Danach lag noch der ganze Abend und die ganze Nacht vor uns. Ich hatte immer noch Kevins Hausschlüssel einstecken. Wir konnten Schwimmen gehen oder auch etwas ganz anderes machen. Uns würde schon was einfallen.

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