Winterregen von Robin (alter Titel: Weirdos)

 

Kapitel 8 - Abschied?

Als ich am Montagmorgen aufwachte, hatte ich rasende Kopfschmerzen. War daran der Alkohol von letzter Nacht schuld? Wir hatten den Abend bis kurz nach Mitternacht in einer mehr oder weniger gemütlichen Gastwirtschaft in einem Nachbarort verbracht. Die komplette Gruppe inklusive Thomas war mitgekommen. Es schien die Stammkneipe der Klinikpatienten zu sein. Der Wirt betrieb sogar einen Abhol- und Bringservice. Mit einem uralten VW LT kutschierte er höchstpersönlich die Patienten zwischen der Klinik und seiner Kneipe in dem etwa drei Kilometer entfernten Dorf hin und her.

Als ich mich im Bett aufsetzte, klopfte mein Gehirn wie wild gegen die Schädeldecke. Nein, die paar Gläser konnten unmöglich an diesen Schmerzen schuld sein. Ich war zwar eigentlich keinen Alkohol gewöhnt, aber so einen Effekt konnten die paar Promille in meinem Blut trotzdem nicht gehabt haben.

Ich sah zu Kevin hinüber, der auf der Matratze neben mir immer noch schlummerte. Die Matratzenanordnung auf dem Boden hatten wir seit Freitag beibehalten. Es war wohl etwas naiv von mir gewesen, zu glauben, dass Kevins Albträume sofort aufhören würden, nur weil er ein- oder zweimal über seine Erlebnisse gesprochen hatte. Dunkel konnte ich mich erinnern, dass auch heute Nacht irgendwas gewesen war. Da hatten mich aber noch keine Kopfschmerzen gequält.

Mühsam stand ich auf und schlich in die Dusche. Vielleicht wurde es ja besser, wenn ich ein paar Kubikmeter heißes Wasser über meinen Körper plätschern ließ. Als ich so unter dem Wasserstrahl stand, ließ ich mir noch einmal die Ereignisse des letzten Abends durch den Kopf gehen. Thomas hatte den Mädchen noch nicht viel über sich erzählt. Bei der lauten Musik in der Kneipe war eine vernünftige Unterhaltung ohnehin kaum möglich gewesen. Das einzige, was die Mädchen inzwischen wirklich mitbekommen hatten, war die Sache mit seinem halbherzigen Suizidversuch. Der Verband um sein Handgelenk ließ sich eben schlecht verbergen. Thomas versuchte das auch gar nicht erst. Die Mädchen wussten wohl inzwischen auch, dass er aus einer ziemlich problematischen Familie kam und von seinem Vater häufig verprügelt worden war.

Da er den Dreien aber bisher noch nichts von seiner Homosexualität erzählt hatte, blieb mir auch noch etwas Zeit für mein Coming-Out vor den Mädchen. Wenn diese erst einmal wussten, dass Thomas schwul war, konnte ich schließlich mein eigenes Schwulsein unmöglich noch länger vor ihnen verbergen. Ansonsten wäre ich mir wohl ziemlich mies vorgekommen. Oder ich würde Gefahr laufen, dass es dann doch irgendwann unbeabsichtigt herauskam. Und das wäre dann richtig peinlich. Eigentlich fürchtete ich mich vor diesem Outing auch nicht besonders, aber irgendwie musste sich schon die richtige Situation dazu ergeben. Natürlich hätte ich es dem Rest der Gruppe längst erzählen können. Es hatte schon einige Gelegenheiten dazu gegeben, die ganz gut gepasst hätten. Aber irgendwie war es mir bisher nie besonders wichtig erschienen. Mir hatte es völlig genügt, dass Kevin Bescheid wusste.

Als ich schließlich das Wasser abstellte, hatte das Hämmern in meinem Kopf tatsächlich nachgelassen, trotzdem fühlte ich mich irgendwie krank.

Kevin hatte die Matratzen bereits zurück auf die Betten gepackt und auch ansonsten etwas Ordnung gemacht, als ich zurück ins Zimmer kam. Ich musste im Bad wohl ewig gebraucht haben.

»Wie siehst du denn aus?« platzte es aus ihm heraus, als er mich sah. »Geht's dir nicht gut?«

»Weiß nicht, irgendwie fühl ich mich nicht so besonders.«

»Hast wohl 'nen Kater?« meinte er grinsend.

»Ach komm, doch nicht wegen den paar Gläsern.«

Ich schlüpfte in meine Klamotten und legte mich danach angezogen auf mein Bett, während Kevin sich im Bad fertig machte.

»Kommst du mit zum Frühstück?« hörte ich irgendwann seine Stimme.

»Ja«, antwortete ich gähnend. Irgendwie musste ich schon wieder leicht eingedöst gewesen sein.

Ich rappelte mich auf und trottete mit Kevin nach unten in den Speisesaal. Ich fühlte mich richtig schwach und gebrechlich. War ich wirklich erst 19? Heute fühlte ich mich eher wie 90.

Bis auf eine Tasse Tee brachte ich dann auch beim besten Willen nichts hinunter. Die anderen sprachen mich wiederholt darauf an, dass ich doch ziemlich blass aussehe, und Gudrun empfahl mir eindringlich, mich in der medizinischen Zentrale untersuchen zu lassen. Als ich mich nach dem flüssigen Frühstück dann aber etwas besser fühlte, hielt ich das doch für etwas übertrieben und ignorierte ihren Rat einfach.

Hinter der Rezeption, an der Wand gegenüber dem Eingang zum Speisesaal und der Cafeteria, befanden sich Schließfächer. Jeder Patient hatte ein eigenes. Hier erhielt man neben der Post auch Mitteilungen von den Psychologen oder der medizinischen Zentrale. Als wir aus dem Speisesaal kamen und Kevin in sein Fach sah, fand er dort einen Zettel von Frau Fröschl. Er sollte um 10.30 Uhr in ihr Zimmer kommen.

»Hast du 'ne Ahnung, was die von dir will?« fragte ich verwundert.

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Nö.«

»Komisch.«

Noch ehe wir weiter über das Thema diskutieren konnten, hörte ich Christinas Stimme hinter mir.

»David?«

Ich drehte mich zu ihr um. Sofort wurde mir schwindlig. Abrupte Drehbewegungen hätte ich an diesem Morgen wohl besser vermeiden sollen.

»Holst du mich dann nachher in unserem Zimmer ab?« hörte ich die Kleine sagen.

Um zehn Uhr würde sich die Gruppe zur Angstbewältigung zum ersten Mal treffen. Da Nadine und die anderen so etwas wie Angstbewältigung nicht nötig hatten, war ich der einzige, den sie kannte, der mit ihr zusammen dort hingehen würde. Eigentlich wollte ich nur wieder in mein Bett und hätte diese Therapiestunde am liebsten ausfallen lassen. Das konnte ich Christina aber unmöglich antun. Alleine würde sie sich niemals unter lauter wildfremde Menschen trauen.

»Ja, klar. Mach ich doch gerne«, antwortete ich deshalb, nachdem mein Gehirn endlich aufgehört hatte, Loopings in meinem Kopf zu drehen.

Sie lächelte mich schüchtern an und verabschiedete sich mit einem leisen »Bis dann.«

Wenn ich bisher nicht voll damit ausgelastet gewesen wäre, mich um Kevin zu kümmern, hätte ich bei ihr mit Sicherheit schon die Rolle eines großen Bruders übernommen. Gut, dass Nadine sonst immer für sie da war. Ich sah den beiden nach, wie sie gemeinsam im Treppenhaus verschwanden.

Kevin hatte die ganze Zeit die Nachricht unserer Psychologin auf dem kleinen roten Zettel angestarrt. Erst jetzt steckte er diesen in die Hosentasche und machte sich mit mir auf den Weg nach oben in unser Zimmer. Heute bevorzugte ich ausnahmsweise den Aufzug.

Ich legte mich noch einmal auf mein Bett und befahl Kevin, mich kurz vor zehn aufzuwecken, falls ich wieder einschlafen sollte. Das war dann aber doch nicht nötig. So stand ich pünktlich um 9.55 Uhr vor Nadines und Christinas Zimmer und klopfte an die Tür.

»Na, bist du bereit?« fragte ich Christina, als sie die Türe öffnete.

Sie nickte.

Zusammen fuhren wir mit dem zweiten Aufzug hinunter in den Keller. In einem fensterlosen, mit hellen Neonröhren erleuchteten Raum warteten bereits fünf andere Patienten auf uns. Hoffentlich fiel jetzt nicht der Strom aus. Sicher war der eine oder andere dabei, der sich im Dunkeln fürchtete. Aber vielleicht war es ja gar kein Zufall, dass sich die Angstpatienten ausgerechnet in diesem Zimmer trafen? Ich fragte mich, welche Experimente man hier mit uns anstellen würde.

Der Psychologe, der die Gruppe leitete, stellte sich als Herr Kronmüller vor. Er hatte einen unverkennbar fränkischen Akzent. Obwohl er sich bemühte, Hochdeutsch zu sprechen, schien er harte Konsonanten nicht zu kennen. Das Wort 'Panikattacke' klang bei ihm eher wie 'Banigaddagge'. Naja, da die Patienten aus ganz Deutschland kamen, fühlte sich dadurch vielleicht jemand an seine Heimat erinnert.

Dann begann die übliche Prozedur. Jeder musste sich vorstellen und von seinen Ängsten berichten. Mittlerweile fühlte ich mich wieder schlechter. Abwechselnd begann ich zu schwitzen und wieder zu frösteln. Manipulierte hier jemand ständig die Heizung? Von dem, was in der Gruppe so gesprochen wurde, bekam ich ab einem gewissen Zeitpunkt kaum noch etwas mit.

Als ich um 11.30 Uhr zurück auf unser Zimmer kam, fühlte ich mich derart schlapp und schwächlich, dass ich mich nur noch nach meinem Bett sehnte und beinahe über den geöffneten Koffer stolperte, der mitten im Raum lag. Verwirrt sah ich mich im Zimmer um. Kevin saß mit angezogenen Beinen im Bett und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Irgendwie sah er nicht besonders glücklich aus.

»Was ist denn hier los?« wollte ich völlig verdattert wissen.

»Jetzt isses so weit«, hörte ich als Antwort. Kevins Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Was?« fragte ich zurück.

»Ich muss zurück in die Psychiatrie.«

Einen Moment blieb ich stumm stehen. Was ging hier ab? Träumte ich das hier nur? Irgendwie fühlte ich mich wirklich fast so wie in einem Traum. Das lag aber wohl eher an meinem Gesundheitszustand. Inzwischen war mir klar, dass ich wohl Fieber haben musste.

»Warum denn das?«

»Naja, kannst du dir doch denken. Weil ich in der Gruppe bisher noch nichts gesagt habe und so.«

»Ja und? Hab ich vielleicht schon viel gesagt? Oder Christina?«

Langsam wurde ich wieder etwas munterer. Adrenalin war schon eine gute Erfindung.

»Da sind noch so ein paar Sachen«, sagte Kevin leise.

»Was denn?«

»Erinnerst du dich an Donnerstagvormittag?«

»Ja, der Arzt unten in der medizinischen Zentrale. Nach deinem Albtraum. War was mit dem?«

Kevin schüttelte den Kopf.

»Naja, das kam vielleicht auch noch dazu. Aber eigentlich hätte ich vormittags um neun bei der Fröschl sein sollen. Zum zweiten Einzelgespräch. Weil ich ihr beim ersten Mal kaum was erzählt habe.«

Kevin hörte sich ziemlich kleinlaut an. Fast so, als ob er erwartete, dass ich ihm jetzt Vorwürfe machen würde. Dazu war ich aber im Moment schon körperlich nicht in der Lage. Irgendeine unsichtbare Kraft versuchte mich die ganze Zeit über auf mein Bett zu ziehen.

»Und um zehn hätte ich eigentlich Maltherapie gehabt«, sagte Kevin noch leiser.

»Oh Mann«, brachte ich schließlich hervor. »Warum bist du denn da auch nicht hin?«

Nun war es also doch so weit. Ich machte ihm tatsächlich Vorwürfe.

»Du weißt doch, wie ich Donnerstagvormittag drauf war.«

Ja, ich erinnerte mich noch lebhaft an seine niedergeschlagene Stimmung und seine miese Laune.

»Mann, du hast uns doch am Freitagnachmittag dann deine Geschichte erzählt. War doch genauso gut, als wenn du's in der Therapiegruppe gemacht hättest. Nur dass eben keine Psychologin dabei war. Und Thomas hast du's am Sonntag noch mal erzählt. Verdammt, dir ging's doch so gut über's Wochenende. Hast du der Fröschl das nicht gesagt?«

Kevin schüttelte den Kopf.

»Die Entscheidung ist glaub ich sowieso schon am Donnerstag gefallen. Da war wohl irgend 'ne Besprechung oder so was. Als ich dann am Freitag während der Gruppenstunde auch wieder nichts gesagt habe, war's wohl endgültig so weit. Vielleicht hätte ich mich bei der Fröschl entschuldigen sollen, dass ich nicht zum Einzelgespräch und zur Maltherapie gekommen bin, aber irgendwie hab ich mich nicht getraut. Sie hätte ja auch selber was sagen können.«

»War die Fröschl deswegen am Freitag so schlecht gelaunt?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Kann schon sein«, sagte er leise.

»Oh Mann, das darf ja wohl nicht wahr sein. Dann hätte sie extra freundlich sein müssen, wenn's so wichtig ist, dass du in der Therapiestunde was sagst.«

Jetzt war ich richtig wütend. Aber nicht auf Kevin. Da war so eine gewisse Psychologin, die ich immer weniger mochte.

»Hey, Kevin. Die können dich hier nicht so einfach wegschicken. Das lass ich nicht zu. Auf keinen Fall!«

»Was willst du denn dagegen machen?« fragte er resigniert.

Ich überlegte einen Moment. Ja, was um alles in der Welt konnte ich dagegen unternehmen? Ich hatte nicht die geringste Ahnung.

»Warte mal«, sagte ich nach einer Weile.

Ich drehte mich um und stürmte wie ein geölter Blitz aus dem Zimmer. Ich kam gar nicht dazu, mich darüber zu wundern, dass ich in meinem Zustand zu einem solchen Kraftakt überhaupt fähig war. Vor Gudruns Zimmer machte ich halt. Ich klopfte an, vielmehr pochte ich wie wild mit meiner Faust gegen die Türe. Hoffentlich war Gudrun in ihrem Zimmer. Als sich ein paar Sekunden später die Türe öffnete und ich in Gudruns ärgerliches Gesicht blickte, war ich richtig erleichtert.

»Ach! Du bist das, der hier so einen Krawall macht.«

»Es geht um Kevin«, stammelte ich völlig außer Atem. »Die schicken ihn wieder zurück in die Psychiatrie.«

»Was?« rief Gudrun erschrocken. »Warum das denn?«

Ich schilderte ihr kurz, was Kevin mir soeben erzählt hatte.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein. Er fühlt sich doch inzwischen hier richtig wohl, oder? Außerdem geht's ihm doch auch schon besser.«

»Ja, das wissen die aber nicht. Kevin hat der Fröschl nichts davon gesagt.«

»Komm, wir gehen zum Chefarzt.«

Gudrun ergriff mal wieder die Initiative.

»Was? Meinst du, das hilft was?« fragte ich erstaunt.

»Auf jeden Fall müssen wir's probieren. Los, wir nehmen Nadine und Christina mit, dann sind wir zu Viert. Zumindest muss uns dieser Dr. Höfling dann anhören.«

Die nächste Türe, die von mir malträtiert wurde, war die Zimmertüre der beiden anderen Mädchen. Es dauerte eine Weile, bis Nadine öffnete. Ich hatte schon befürchtet, die beiden wären nicht auf dem Zimmer. Gudrun erklärte den beiden kurz die Lage und unser Vorhaben, dann waren wir auch schon im Aufzug zum Erdgeschoss, wo sich das Büro des Klinikchefs befand. Im Vorzimmer empfing uns eine elegant gekleidete Mittvierzigerin, die auf den plötzlichen Ansturm von vier jungen Patienten offensichtlich nicht vorbereitet gewesen war. Sie griff nach ihrer Brille, die ihr an einer Kette um den Hals baumelte, und starrte uns mit offenem Mund an.

»Moment, so geht das aber nicht«, sagte sie. »Haben Sie überhaupt einen Termin?«

»Äh, ... 'tschuldigung«, stammelte ich und drehte mich schnell um, um die Türe hinter uns zu schließen. Sofort begann der Raum sich um mich zu drehen. Nur mit Mühe konnte ich mich auf den Beinen halten. Mittlerweile war Gudrun auf die Sekretärin des Chefarztes zugegangen.

»Wir müssten dringend mit Herrn Dr. Höfling sprechen. Es geht um Kevin Winter. Er ist mit uns in einer Gruppe«, sagte sie mit freundlicher aber bestimmter Stimme.

»Sie haben aber keinen Termin, oder?« fragte die Sekretärin zurück.

»Nein, aber es ist wirklich wichtig. Könnten Sie da irgendetwas für uns machen?«

»Na, ich will mal sehen. Wenn das so wichtig ist.«

»Ja, es ist wirklich ganz, ganz dringend. Wir wären Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie uns zu Herrn Dr. Höfling vorlassen könnten.«

»Moment, so einfach ist das leider nicht, der Chef ist im Moment beschäftigt. Ich kann Sie höchstens irgendwann heute Nachmittag einschieben.«

»Bis heute Nachmittag können wir aber nicht warten. Bitte, irgendwas muss sich da doch machen lassen.«

Die Vorzimmerdame seufzte tief durch und nahm ihre Brille wieder ab. Trug sie das Ding nur als Dekorationsobjekt oder half ihr das Teil wirklich beim Sehen? Sie erhob sich kopfschüttelnd von ihrem Drehstuhl und ging zu der großen, von außen gut gepolsterten Türe hinüber, die das Büro des Chefarztes von allen Geräuschen aus dem Vorzimmer abschirmte. Vorsichtig klopfte sie an, öffnete dann leise die Türe und steckte ihren Kopf durch den Spalt.

»Chef?« flüsterte sie leise.

Es schien keine Reaktion zu kommen.

»Chef?« flüsterte sie nochmals, diesmal etwas lauter.

Jetzt waren irgendwelche undefinierbaren Geräusche aus dem angrenzenden Zimmer zu hören. Eine Stimme brabbelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Irgendwie hörte sich die Stimme aber etwas ärgerlich an. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen.

»Tut mir leid Chef, aber da sind vier junge Patienten, die dringend etwas mit Ihnen besprechen möchten. Sie wollen unbedingt sofort zu Ihnen.«

»Ist schon gut Frau Fricke, lassen Sie sie nur rein.«

Diesmal waren die Worte besser zu verstehen. Es war unverkennbar die sonore Stimme von Dr. Höfling, die mir vom Anreisetag noch bestens in Erinnerung war. Frau Fricke öffnete die Türe nun ganz und forderte uns auf einzutreten. Als wir ins Zimmer kamen, nahm der Chefarzt gerade auf dem Ledersessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch Platz. Er sah etwas zerzaust aus. Man konnte fast meinen, er hätte gerade auf der Liege, die in einer Zimmerecke stand, ein kleines Nickerchen gemacht.

»Treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, forderte er uns auf. Die Stühle vor dem ausladenden Schreibtisch reichten gerade so eben für uns aus. Einen Stuhl hatte ich jetzt auch dringend nötig, irgendwie schwankte immer noch alles um mich herum.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte uns Dr. Höfling, als wir schließlich alle saßen.

»Wir haben gerade erfahren, dass unser Gruppenmitglied Kevin Winter wieder zurück in die Psychiatrie soll«, begann Gudrun unser plötzliches Hereinplatzen zu erklären. »Wir glauben aber alle, dass er hier ganz gut aufgehoben ist.«

»Ja, er fühlt sich hier inzwischen richtig wohl«, fügte ich eindringlich hinzu. »Sie dürfen ihn jetzt auf keinen Fall wegschicken. Es geht ihm schon viel besser. Ich bin bei ihm im Zimmer, ich kann das echt beurteilen.«

Ob das die richtigen Worte waren, um Dr. Höfling zu überzeugen? Naja, mir fiel eben gerade nichts Besseres ein.

Herr Dr. Höfling sah uns eine Weile an, dann fragte er: »Was sagt denn Herr Winter selbst dazu, warum ist er denn nicht mitgekommen?«

»Oh, ähm, ähhh ...«, fing ich an. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir Kevin überhaupt nicht darüber informiert hatten, was wir hier gerade machten.

»Naja, er weiß überhaupt nicht, dass wir hier sind«, sagte Gudrun leise.

»Dann sollten Sie ihn vielleicht erst einmal holen. Wir können ja hier nicht hinter seinem Rücken über etwas entscheiden, ohne dass er sich selbst dazu äußern kann. Oder meinen Sie nicht?«

»Ja, gut, ich geh ihn schnell holen«, stammelte ich und erhob mich mühsam von meinem Stuhl. Als ich aufstand wurde mir wieder schwindlig. Dr. Höfling sah mich mit gerunzelter Stirn an.

»Sie sehen aber recht blass aus«, meinte er. »Geht's Ihnen nicht gut?«

»Geht schon«, sagte ich und machte ich mich schnell auf den Weg, um meinen Körper daran zu hindern, auf dumme Gedanken zu kommen. Zusammenbrechen konnte ich auch später noch. Im Moment war Kevin wichtiger.

»Bin gleich wieder da«, rief ich einer verwunderten Frau Fricke zu, als ich an ihr vorbeistürmte und sämtliche Türen hinter mir offen stehen ließ. Ich wollte auf keinen Fall durch irgendwelche unnötigen Aktionen einen weiteren Schwindelanfall riskieren.

Als ich im Zimmer ankam, kniete Kevin gerade auf dem Boden und packte einige seiner Klamotten in den Koffer.

»Los, komm mit«, forderte ich ihn auf.

»Wohin?« fragte er verdattert. »Was ist denn los? Wo bist du eben so schnell hin?«

»Frag nicht lange, komm einfach.«

»Was soll das denn?«

Für lange Diskussionen hatte ich jetzt keine Zeit und um Kevin einfach am Arm zu packen und hinter mir herzuschleifen fehlte mir die Kraft.

»Bitte Kevin, wenn du hier in der Klinik bleiben willst, dann komm jetzt einfach mit mir mit.«

Ich flehte ihn regelrecht an. Erleichtert stellte ich fest, dass meine Worte Wirkung zeigten. Mit Kevin im Schlepptau lief ich zurück zum Fahrstuhl.

»Da rein«, sagte ich zu ihm, als wir im Erdgeschoss vor der Türe des Chefarztvorzimmers angekommen waren. Diese stand immer noch offen und eine kopfschüttelnde Frau Fricke blickte uns von ihrem Schreibtisch aus ärgerlich entgegen.

»Würden Sie diesmal wenigstens die Türen hinter sich schließen?«

»Ja sicher, gerne«, antwortete ich und gab der Vorzimmertüre einen leichten Schubs, so dass sie einigermaßen leise ins Schloss fiel. Wieder erntete ich ein vorwurfsvolles Kopfschütteln, als ich Kevin vor mir her an ihr vorbei ins Büro von Dr. Höfling schob. Kevin betrat zögerlich das Zimmer und der Chefarzt winkte ihn auf den noch freien Stuhl vor dem Schreibtisch, während ich die zweite Türe diesmal leise und vorsichtig zumachte.

»Kommen Sie nur, Herr Winter. Setzen Sie sich. Wir warten schon auf Sie.«

Kevin blickte sich verwundert um und folgte dann der Anweisung.

»Was ist hier eigentlich los?« wollte er wissen.

Als ich schließlich in Ermangelung einer Sitzgelegenheit hinter den Stühlen der anderen stehen blieb, erntete ich wieder ein Stirnrunzeln von Seiten des Chefarztes.

»Junger Mann, Sie sind ja leichenblass. So wie Sie aussehen, haben Sie Fieber, oder täusche ich mich da?«

»Kann schon sein«, antwortete ich. »Hab mir wohl 'ne Erkältung oder so was eingefangen.«

Wieder wurde mir schwindlig und ich musste mich an der Stuhllehne vor mir festhalten, um nicht umzukippen.

»Waren Sie schon in der medizinischen Zentrale deswegen?«

Ich schüttelte den Kopf, was keine gute Entscheidung war, da sich nun wirklich alles um mich drehte. Inzwischen hatten auch die Kopfschmerzen wieder zu ihrer alten Stärke zurückgefunden.

Dr. Höfling drückte auf einen Knopf an seinem Telefon.

»Frau Fricke, kommen Sie bitte mal kurz rein?«

Einige Sekunden später stand die Sekretärin in der Türe.

»Bringen Sie doch den jungen Mann hier hinüber in die Zentrale, sonst klappt er uns hier noch zusammen.«

»Ja, gerne«, hörte ich von hinten.

»Aber ich muss doch ...«, setzte ich an, wurde aber sofort vom Chefarzt unterbrochen.

»Sie müssen sich jetzt erst einmal um Ihre eigene Gesundheit kümmern. Wir regeln das hier schon. Herr Winter hat ja immer noch genügend Beistand.«

Widerwillig folgte ich Frau Fricke aus dem Zimmer. In meinem Zustand war ich Kevin ohnehin keine große Hilfe mehr.

Ein Arzt in der Zentrale diagnostizierte bei mir einen grippalen Infekt, drückte mir ein paar bunte Pillen in die Hand und verordnete mir Bettruhe. Kaum hatte ich mich nach oben auf unser Zimmer geschleppt und auf mein Bett gelegt, war ich auch schon eingeschlafen.

Als ich wieder wach wurde und auf meinen Wecker sah, war es 16.10 Uhr. Das autogene Training um 13.30 Uhr und unsere Gruppensitzung hatte ich damit wohl verpasst. Wenigstens fühlte ich mich jetzt etwas besser. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Als ich mich im Zimmer umsah, entdeckte ich Kevins Koffer, der vorhin geöffnet auf dem Boden gelegen hatte. Jetzt stand er geschlossen an der Wand neben dem Kleiderschrank. Zumindest war Kevin also noch nicht abgereist. Erleichtert drehte ich mich auf die andere Seite und schlief wieder ein.

Irgendwann hörte ich dann Stimmen neben mir, die irgendetwas flüsterten.

»... ihn lieber schlafen ... ihm noch später beichten ...«

»Wasislos?« nuschelte ich im Halbschlaf.

»Schlaf weiter, David, ist alles okay. Ich kann hier bleiben.«

»Echt?«

»Ja.«

Ich öffnete mein rechtes Auge einen kleinen Spalt. Eine verschwommene Gestalt blickte auf mich herab. Die dunklen Locken gehörten eindeutig zu Kevin.

»Komm Thomas, wir lassen ihn noch 'ne Weile in Ruhe«, flüsterte er einer zweiten Person zu, die neben ihm stand. »Du kannst ihm das alles später erklären, wenn er wieder munter ist.«

»Was?« fragte ich noch, döste aber gleich wieder ein. Kevin konnte also hier bei mir in der Klinik bleiben. Mehr musste ich im Moment gar nicht wissen, um beruhigt weiterschlafen zu können.

Als ich wieder wach wurde, war es dunkel im Zimmer. Mein Wecker zeigte 18.25 Uhr an. Ich hatte das Gefühl, fürs erste genügend Schlaf bekommen zu haben. Mir knurrte der Magen. Kein Wunder, ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich setzte mich auf. Eigentlich fühlte ich mich ganz gut. Wenn ich in der kommenden Nacht noch einmal genügend Schlaf bekam, würde ich morgen wohl wieder einigermaßen fit sein. Ich schaltete das Licht ein. Kevin und die anderen waren um diese Zeit wohl unten beim Essen. Mein Magen signalisierte, dass es wohl eine ganz gute Idee wäre, den anderen im Speisesaal Gesellschaft zu leisten. Ich ging also kurz ins Bad, um mich frisch zu machen. Während ich mir gerade das Gesicht wusch, hörte ich eine Stimme vor der Badtüre.

»Bist du da drinnen, David?«

»Ja. Moment. Komme gleich.«

»Lass dir Zeit.«

Als ich zurück ins Zimmer kam, stand ein gut gefülltes Tablett auf dem Tisch. Ich entdeckte ein paar Scheiben Toast mit Butter. Kevin goss gerade Tee aus einer großen Kanne in die Tasse auf dem Tablett.

»Da kommen wir ja gerade rechtzeitig«, sagte er und grinste mich an, als ich immer noch etwas schwächlich zum Tisch tappte.

Erst jetzt entdeckte ich Thomas, der vor dem Fenster stand und mich irgendwie ängstlich ansah.

»Du, David«, fing er an, aber Kevin fiel ihm ins Wort.

»Jetzt lass ihn erst mal in Ruhe essen.«

»Was ist denn los?« wollte ich wissen.

»Iss erstmal was. Thomas muss dir was beichten, das hat aber Zeit.«

Ich setzte mich an den Tisch. Im Moment hatte mein Magen oberste Priorität. Nachdem ich die ersten Bissen Toast hinuntergeschluckt hatte, drehte ich mich zu Kevin um, der neben Thomas auf dem Bett saß.

»Jetzt erzähl erst mal, was beim Chefarzt so abgelaufen ist.«

»Ach, war keine große Sache. Ich hab einfach 'ne Weile mit ihm geredet. Gudrun und die anderen hat er vorher auch noch rausgeschickt, du hast also nichts verpasst.«

»Und, was hast du ihm so erzählt?«

»Naja, eben dass es mir am Anfang halt schwer gefallen ist, hier klarzukommen. Und dass ich mich hier inzwischen eben schon wohler fühle und dass es mir besser geht und so. Ich sag doch, war keine große Sache.«

»Hey, Mann, ich bin echt froh, dass du hier bleiben kannst. Ich hätte dich echt vermisst.«

Kevin grinste mich an.

»Weiß ich doch«, sagte er.

Ich grinste etwas verlegen zurück.

Nachdem ich zwei Scheiben Toast verspeist und die erste Tasse Tee geleert hatte, drehte ich mich schließlich zu Thomas um.

»Und, was wolltest du mir erzählen?«

»Naja, mir is da was passiert. Ich meine, ich wusste ja nicht ...«, stammelte er hilflos.

»Hey, am besten du fängst ganz von vorne an, okay? Also, was ist passiert?«

»Ich hab den anderen verraten, dass du schwul bist«, sagte er leise. »Ich wusste ja nicht, dass die das noch nicht wissen«, fügte er schnell hinzu.

»Thomas kann nichts dafür, er hat sich halt ein bissel blöd angestellt«, schaltete Kevin sich ein.

»Ich hab auch nur verraten, dass du schwul bist, nichts von der anderen Sache, du weißt schon«, sagte Thomas kleinlaut.

»Die Fröschl hat zu ihm gesagt, dass er was von sich erzählen soll, und da hat er eben gesagt, dass er auch schwul ist. Wenn er das 'auch' weggelassen hätte, wäre überhaupt nichts passiert. So haben die Mädchen eben dumm geschaut«, erklärte Kevin.

»Naja, zuerst haben sie mich angesehen«, fügte er grinsend hinzu. »Und als Thomas das bemerkt hat, hat er erschrocken geguckt und 'Nicht Kevin, David ist schwul' oder so was ähnliches gestammelt.«

»Sorry, ist mir irgendwie rausgerutscht.«

Thomas starrte betreten auf den Fußboden.

Nach dieser Geschichte konnte ich nicht anders, ich musste einfach lachen. Als ich dann auch noch Thomas' unterwürfigen Dackelblick sah, prustete ich laut los. Thomas sah mich fassungslos an.

»Bist du mir gar nicht böse?« fragte er ängstlich, als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

Ich schüttelte den Kopf.

»Hey, ich bin doch auch selber schuld. Ich hätte dir sagen müssen, dass die Mädchen noch nicht Bescheid wissen. Außerdem hatte ich lange genug Zeit, um es ihnen selbst zu erzählen, und hab's nicht gemacht.«

»Du bist echt nicht sauer?« fragte Thomas noch einmal.

»Naja, ich hab mir das Ganze schon etwas anders vorgestellt, aber jetzt ist es wenigstens raus. Wie haben die Mädchen denn reagiert?«

»Och, ganz normal«, antwortete Kevin. »War keine große Sache.«

War keine große Sache? Das war wohl heute Kevins Lieblingssatz.

»Ich glaub, die waren höchstens ein bissel sauer, weil Thomas und ich schon Bescheid wussten und sie noch nicht.«

Na toll! Dann war wohl jetzt zumindest eine Entschuldigung bei den drei Mädchen fällig.

»Sind die Drei noch unten?« wollte ich wissen.

Kevin grinste.

»Nee, die warten auf Nadines und Christinas Zimmer, dass ich sie holen komme. Die wollten dir eh 'nen Krankenbesuch abstatten.«

Wunderbar! Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich seufzte tief durch.

»Na los, dann geh sie holen«, forderte ich Kevin auf.

Eine Minute später kam er zusammen mit den Dreien zurück ins Zimmer.

»Und? Wie geht's dir?« wollte Gudrun wissen.

Wenigstens kam sie zuerst auf meine Gesundheit und nicht auf meine Homosexualität zu sprechen.

»Ach, geht schon besser. Kopfschmerzen sind weg. Fieber auch.«

»Prima! Vielleicht bist du morgen ja schon wieder fit.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ähm, tut mir echt leid, dass ich euch nicht selbst erzählt habe, dass ich schwul bin«, sagte ich nach einer Weile mit gesenktem Kopf.

»Naja, so was erzählt man ja auch nicht gleich jedem«, erwiderte Gudrun.

»Ja, aber euch hätte ich's wirklich inzwischen erzählen sollen, weiß auch nicht, warum ich das nicht gemacht habe.«

Bei diesem Satz muss ich wohl ziemlich mitleiderregend ausgesehen haben. Zumindest schienen es die Mädchen für nötig zu halten, mich erstmal zu umarmen. War so ein grippaler Infekt eigentlich ansteckend? Ich hielt besser mal den Atem an, um keine Bakterien oder ähnliches Zeugs freizusetzen, während ich von den Dreien beinahe zerquetscht wurde. Hey, nicht alle auf einmal! Und nicht so fest!

Hosted by www.kapuze.org